In Ihrer Frage thematisieren Sie, inwieweit der Genitiv an Substantiven kenntlich gemacht werden muss. In der Dudengrammatik (Duden Band 4) ist unter §1534 die sogenannte
Genitivregel zu finden. Diese besagt, dass in einer Nominalgruppe im Genitiv mindestens eine Wortform die Endung -s/-es oder -er erhalten muss. Unter einer Nominalgruppe im Genitiv ist zunächst ein Wort oder eine Wortgruppe zu verstehen, welche im Genitiv steht. Je nachdem, ob die Phrase im Singular oder Plural steht, soll mindestens eines der Wörter der Phrase durch eine der Endungen die gesamte Phrase als Nominalgruppe im Genitiv kenntlich machen. Zur Verdeutlichung werden die Nominalgruppen im Genitiv im Folgenden durch Unterstreichung hervorgehoben:
1. Das Auto des Vaters steht im Hof.
2. Das Spielzeug eines Jungen liegt verstreut im Wohnzimmer.
3. Wir gedenken unserer Verstorbenen.
4. Die Lehrer nahmen sich der Schüler an.
5. Das Katzenfutter der Katze stand im Flur.
Die Beispiele zeigen die verschiedenen Möglichkeiten des Deutschen, die Genitivregel umzusetzen. In den ersten beiden Beispielen steht die Nominalgruppe im Genitiv im Singular. In beiden Fällen wird der Genitiv bereits am Artikel (
des/
eines) deutlich. Im Fall des Substantiv
Vaters erhält auch dieses Substantiv ein -s zur Markierung des Genitivs, worauf im Anschluss an die Erläuterung der Beispiele eingegangen wird. Die Beispiele 3 und 4 zeigen eine Nominalgruppe im Genitiv im Plural. Hier wird der Genitiv durch die Endung -er deutlich. Auch im Singular kann die Endung -er bei Feminina den Genitiv markieren, was am Artikel
der deutlich wird.
Um zu zeigen, dass es auch Abweichungen von dieser Regel geben kann, soll zunächst auf die Genitivmarkierung bei Substantiven in Abhängigkeit ihrer Deklinationsklasse eingegangen werden. Inwieweit ein Substantiv eine Genitivendung erhält, ist nämlich abhängig von der Flexion bzw. Deklinationsklasse der Substantive. Substantive der starken Deklination erhalten im Genitiv Singular ein -s:
der Vater -> des Vaters
das Kind -> des Kindes
das Echo -> des Echos
Hingegen wird der Genitiv bei Substantiven der schwachen Deklination durch die Endung -en markiert:
der Architekt -> des Architekten
Darüber hinaus gibt es Substantive, welche auch im Genitiv endungslos bleiben:
die Mutter -> der Mutter
die Katze -> der Katze
Jedoch bleibt die Genitivregel bestehen, da die Artikel den Kasus weiterhin anzeigen. Festzuhalten ist jedoch, dass der
Genitiv nicht immer am Substantiv erkennbar ist.
Nachdem nun grundlegendes zur Genitivmarkierung gesagt wurde, soll nun auf Ihr Beispiel eingegangen werden. Sie haben hier zwei Varianten gegenübergestellt:
1. Geschichte des vereinten Europa
2. Vision eines geeinten Europas
In beiden Fällen wird der Genitiv durch die Artikel markiert, jedoch unterscheidet sich die Genitivendung im Falle des Substantivs
Europa. Im ersten Beispiel tritt dieses Substantiv ohne Genitivendung auf, im zweiten Beispiel jedoch wird der Genitiv auch am Substantiv durch -s gekennzeichnet. Laut dem Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden Band 9) kommt es bei geographischen Eigennamen zu Schwankungen hinsichtlich der Genitivmarkierung:
des Inns/ des Inn (Beispiel aus Duden Band 9)
des Kongos/ des Kongo (Beispiel aus Duden Band 9)
Als Grund für die Schwankung wird angegeben, dass die Endungen zwecks Verständlichkeit für den Leser weggelassen werden können, da der Eigenname ohne Genitivendung besser erkannt werde. Im Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle wird jedoch auf die besondere Verbindung von
Artikel + Adjektiv + geographischer Name eingegangen, wie es auch in Ihren Beispielsätzen der Fall ist. Dazu ist festzuhalten, dass in diesen Fällen die Variante mit Genitiv-s korrekt ist, mittlerweile jedoch auch die Variante ohne Genitiv-s verwendet werden kann:
Die Länder des heutigen Europas/ Europa (Beispiel aus Duden Band 9)
des zerstörten Dresdens/ Dresden (Beispiel aus Duden Band 9)
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