Ergebnis 1 bis 2 von 2

Thema: Ist "Brauch ich Jacke?" korrekt?

  1. #1
    Unregistriert Gast

    Standard Ist "Brauch ich Jacke?" korrekt?

    Mit folgendem Nachschlagewerk versuchte ich dieser Frage auf den Grund zu gehen:
    Schon einmal in Grammatikfragen.de gestellt (am 25.04.), bislang noch nicht beantwortet

    Seit einiger Zeit fällt mir auf, dass Vorschulkinder um mich herum immer weniger Artikel zu benutzen scheinen. Mir ist klar, dass diese Kinder noch im Spracherwerb stecken. Es geht mir hier jetzt nicht um die Frage, ob die Kinder einen Fehler gemacht haben und machen (schon gar nicht würde ich sie verbessern wollen), sondern ob man sagen würde, dass die Äußerung "Brauch ich Jacke?" im Deutschen allgemein (egal, wer das sagt) irgendwie ungrammatisch ist oder nicht.

  2. #2

    Standard "Brauch ich Jacke?" aus variationslinguistischer Perspektive

    Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.

    In Ihrer Frage möchten Sie wissen, ob die Formulierung

    Beispiel

    Brauch ich Jacke?

    als grammatisch inkorrekt zu bewerten ist.
    Ihre Frage soll einerseits aus systemlinguistisch-standardsprachlicher und andererseits aus variationslinguistischer Perspektive beleuchtet werden.

    Sprachsystem


    systemlinguistisch-standardsprachliche Perspektive:

    Zur Beantwortung Ihrer Frage aus systemlinguistisch-standardsprachlicher Perspektive soll einerseits die Verbform „brauch“ und andererseits die Frage des Artikels thematisiert werden.
    „Brauch“ ist in dem von Ihnen beschriebenen Beispielsatz eine Verkürzung der 1. Person Singular Präsens Aktiv Indikativ von „brauchen“ (also komplettiert „brauche“). Dies stellt grammatisch kein Problem dar, insbesondere da durch die Realisierung des Personalpronomens „ich“ die grammatische Referenz eindeutig erkennbar ist. Die Duden-Grammatik schreibt diesbezüglich: „In spontaner gesprochener Sprache wird das auslautende Schwa der 1. Pers. Sg. Präs. regelmäßig ausgelassen“ (Duden-Grammatik, §622)

    [Exkurs: Schwa-Laut
    Der Schwa-Laut bezeichnet im Deutschen u.a. das -e im Wortauslaut und in Vorsilben be- und ge-. Das „e“ wird hier kurz und unbetont gesprochen.

    Beispiel

    Rübe (e kurz und unbetont)
    laufe
    gefallen
    beginnen ]

    Nun stellt sich die Frage nach dem Artikel. Deutsche Substantive bzw. Nominalgruppen werden in der Regel von einem Artikel begleitet. Hierzu wird nach Helbig-Buscha auch der sog. Nullartikel gezählt, bei dem der Artikel „leer“ ist, also nicht angezeigt wird.

    Beispiel

    Ich warte auf Lisa. (Nullartikel; d.h. kein Artikel)
    Ich trinke gerne Bier. (Nullartikel; d.h. kein Artikel)

    Artikelwörter (auch Nullartikel) setzen das von ihnen begleitete Substantiv bzw. die von ihnen begleitete Nominalgruppe in einen Kontext seiner außersprachlichen Realität. In Ihrem Beispiel ist ein Nullartikel realisiert.

    Beispiel

    Brauch ich Jacke?

    Andere Optionen wären der bestimmte (definite) oder der unbestimmte (indefinite) Artikel:

    Beispiel

    Brauche ich die Jacke? (definiter Artikel)
    Brauche ich eine Jacke? (indefiniter Artikel)

    Der Nullartikel wird im Singular beispielsweise bei Eigennamen

    Beispiel

    Ich mag Lisa

    oder bei Stoffbezeichnungen einer unbestimmten Menge des Stoffes im Singular verwendet.

    Beispiel

    Er trinkt gern Bier
    Ich brauche Bier
    Ich brauche Holz
    Ich brauche Wasser

    Er steht auch bei Bezeichnungen des Berufs, der Funktion, der Nationalität und der Weltanschauung in Konstruktionen vom Typ Nominativ + sein / werden + Nominativ (1,2) oder Nominativ + Verb + als + Nominativ (3,4).

    Beispiel

    (1) Er ist Bürgermeister.
    (2) Er wird Arzt.
    (3) Sie arbeitet als Kellnerin.
    (4) Er handelt als Christ.

    Da in Ihrem Beispiel „brauche“ weder mit Eigennamen noch mit unbestimmten Stoffbezeichnungen kombiniert wird noch eine oben beschriebene Konstruktion mit sein/ werden oder als dargestellt ist, kommt der Nullartikel aus systemlinguistisch-standardsprachlicher Perspektive (!) für Ihr Beispiel nicht in Frage.

    Welcher Artikel, ob z.B. ein bestimmter oder unbestimmter (oder possessiver Artikel), hinzugefügt wird, hängt von den kommunikativen Bedingungen ab.
    Der bestimmte Artikel (der, die, das) signalisiert die Identifizierung (=die „Eindeutigmachung“) von Objekten der außersprachlichen Realität. Angenommen, die Mutter eines Kindes möchte, dass das Kind beim Rausgehen die rote Steppwinterjacke anzieht, das Kind möchte aber lieber die schwarze Fleecejacke tragen. Dann könnte das Kind (auf eine eindeutige, bereits identifizierte Jacke referierend) fragen:

    Beispiel

    Brauche ich die Jacke?

    Möchte das Kind zum Spielen herausgehen, weiß aber nicht, wie es um die Temperaturen steht, könnte es generalisierend fragen:

    Beispiel

    Brauche ich eine Jacke?

    Das Kind würde also auf ein beliebiges Objekt der Klasse „Jacke“ Bezug nehmen. Der unbestimmte Artikel drückt nämlich – wie sein Name schon sagt – die Indeterminiertheit der bezeichneten Objekte aus.

    2.) variationslinguistische Perspektive

    Aus variationslinguistischer Perspektive kann man Ihr Beispiel „Brauch ich Jacke?“ einer Varietät des Deutschen, dem Kiez-Deutsch, zuordnen. Varietäten zeichnen sich durch ein eigenes System aus. Für dieses System gelten systemspezifische Korrektheitsbedingungen (d.h. die Bedingungen dafür, dass etwas als "korrekt" beurteilt wird). Dementsprechend können die Korrektheitsbedingungen der Standardsprache nicht mit den Korrektheitsbedingungen einer Varietät (hier des Kiez-Deutschen) gleichgesetzt werden. Was in Varietät A (z.B. Standardsprache) als inkorrekt gilt, kann in Varietät B (z.B. Kiez-Deutsch) als korrekt gelten. Aus dieser Perspektive können Urteilsbegriffe bezüglich (In-)Korrektheit nur in Bezug auf einzelne Varietäten getroffen werden.

    Die Variationslinguistik erzielt die deskriptive Analyse eines regelhaften und regelgeleiteten Sprachgebrauchs, der ungleich der Standardsprache ist, dessen Eigenschaften und Eigenheiten, Eigenlogik und Produktivität. Kiez-Deutsch erfüllt Kriterien für die Kategorisierung als „Varietät“, da sich eigene Konstruktionsmuster entwickelt haben. Wiese bezeichnet diese als „ein komplexes und produktives grammatisches Phänomen“ (Wiese, Heike: „‘Ich mach dich Messer‘: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache (‚Kanak Sprak‘).
    Weiterhin spricht für die Einordnung als Varietät, „dass Kiez-Sprache auch von Sprechern gesprochen wird, die daneben das Standarddeutsche beherrschen“ (vgl. Wiese, ebd.).

    Ein zentrales Merkmal der Kiez-Sprache sind Formen der morpho-syntaktischen Reduktion, zu denen auch der Wegfall von Artikeln gehört.
    Artikel und Pronomina entfallen vor allem dort, wo der Satz auch ohne diese verständlich bleibt. Im Folgenden sind die Auslassungen durch Ø markiert.

    Beispiel

    Ich sag: ’Hast du Ø Handy bei?’
    Er hat schon Ø eigene Wohnung.
    Ich mache Ø Ausbildung als Fachlagerist“
    (vgl. www.kiezdeutsch.de)


    Der Wegfall von Artikeln ist prinzipiell auch im Standarddeutschen möglich, wenn die Verständlichkeit durch den Kontext ausreichend gesichert ist. Beispiele hierfür sind Hinweisschilder („Tür öffnet selbstständig!“) oder Überschriften von Pressetextsorten („Kunstsammlung eröffnet“). Diese grammatischen Reduktionen haben eine funktionale Logik: Sie dienen sowohl in der Standardsprache als auch im Kiez-Deutschen der Sprachökonomie und der schnelleren Informationsverarbeitung für den Leser.

    Aus variationslinguistischer Perspektive würde man Ihr Beispiel

    Beispiel

    Brauch ich Jacke?

    innerhalb der Varietät des Kiez-Deutschen verorten und in Bezug auf die Korrektheitsbedingungen dieser spezifischen Varietät prüfen. Da der Wegfall von Artikeln eine Korrektheitsbedingung des Kiez-Deutschen darstellt, ist Ihr Beispielsatz in Bezug auf diese Varietät als korrekt zu beurteilen.
     


    Fazit:
    Ihr vorgeschlagener Beispielsatz

    Beispiel

    Brauch ich Jacke?

    ist aus systemlinguistisch-standardsprachlicher Perspektive als grammatikalisch inkorrekt zu bewerten, da die Kriterien für die Verwendung eines Nullartikels (d.h. keines Artikels) nicht erfüllt sind. Stattdessen müsste ein anderer Artikel hinzugefügt werden.
    Welcher Artikel korrekterweise eingefügt wird, hängt, wie oben beschrieben, von den situativen Kommunikationsbedingungen ab.

    Aus variationslinguistischer Perspektive wird Ihr Beispielsatz der Varietät des Kiez-Deutschen zugeordnet und auf der Grundlage dessen systemspezifischer Regeln und Korrektheitsbedingungen als korrekt bewertet.

Ähnliche Themen

  1. Antworten: 1
    Letzter Beitrag: 29.02.2016, 16:44

Lesezeichen

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein