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Thema: gestresst wäre, getrennt leben, gerecht aufteilen

  1. #1

    Standard gestresst wäre, getrennt leben, gerecht aufteilen

    Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
    durch Literatur

    Mit folgendem Nachschlagewerk versuchte ich dieser Frage auf den Grund zu gehen:
    online, Duden

    Hallo,

    ich frage mich, wie ich die Wörter vor den Verben benennen soll (Wortart) und welche Funktion sie haben.
    Beispiel: gestresst sein: Wortart: Partizip II - Funktion: Vergangenheitsform? Bei stressen wird aber die Vergangenheit mit "haben" gebildet, sodass gestresst hätte richtig wäre. Oder handelt es sich um ein Adjektiv, das aus dem Partizip II gebildet wird? Adjektiv vor Verben - geht das?

  2. #2

    Standard Funktionsweisen des Partizips II

    Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.

    Sprachsystem

    In Ihrer Frage thematisieren Sie, wie Verbindungen von Partizipien beziehungsweise Adjektiven zustande kommen. Sie haben in Ihren Beispielen die beiden Partizipien „gestresst“ und „getrennt“ sowie das Adjektiv „gerecht“ einem Verb vorangestellt. Da alle von Ihnen genannten Beispiele mit ge- beginnen, scheint ein formaler Zusammenhang zu bestehen. Im Folgenden sollen Ihre Beispiele zunächst getrennt erläutert werden, um auf die unterschiedlichen Eigenschaften von „gestresst“, „getrennt“ und „gerecht“ eingehen zu können.
    1. gerecht aufteilen
    Wie bereits angesprochen wurde, handelt es sich bei „gerecht“ laut dem Duden-Universalwörterbuch um ein Adjektiv. Eine Verbindung zu dem Verb „richten“ und dem Partizip II dieses Verbs „gerichtet“ erscheint zwar naheliegend, jedoch handelt es sich bei „gerecht“ nicht um ein Partizip II. Ihre Ausgangsproblematik bestand in der Frage, warum Adjektive vor Verben stehen können. Hierzu ist festzuhalten, dass Verben laut §478 der Dudengrammatik durch ein adverbiales Adjektiv, also ein Adjektiv, welches wie ein Adverb zur näheren Beschreibung eines Verbs gebraucht wird, semantisch aufgeladen werden:
    Ich renne.
    Ich renne schnell.
    Ich renne sehr schnell.
    Ich teile den Kuchen gerecht auf.
    Ich teile den Kuchen fair auf.
    Ich teile den Kuchen gleichmäßig auf.
    Folglich handelt es sich bei „gerecht“ um ein Adverbial zum Vollverb „aufteilen“.
    2. getrennt leben
    In diesem Beispiel liegt mit „getrennt“ das Partizip II des Verbs „trennen“ vor. Das Partizip II kann auch adjektivisch verwendet werden, wie die nachstehenden Beispiele illustrieren:
    Sie leben in getrennten Wohnungen.
    Sie leben schön.
    Sie leben einfach.
    Aufgrund dieser Verwendungsweise stellt „getrennt“ das Adverbial zum Vollberb „leben“ dar.

    3. gestresst sein

    Sie haben hier problematisiert, welches Hilfsverb benutzt werden muss, um das Perfekt von „stressen“ zu bilden. Wie Sie bereits richtig erläutert haben, ist zur Perfektbildung das Partizip II des Vollverbs nötig. In diesem Fall handelt es sich um die Form „gestresst“. Nun ist die Frage, welches Hilfsverb zur Perfektbildung nötig ist. Sie haben als Hilfsverb das Verb „haben“ vorgeschlagen. Das Duden-Universalwörterbuch (DUW) belegt, dass „stressen“ das Perfekt mit „haben“ bildet:
    Er hat sie mit seinen Problemen gestresst. (Beispiel aus DUW)
    Die Konstruktion „gestresst sein“ ist von dem Perfekt zu unterscheiden. Hier wird das Partizip II wie ein Adjektiv verwendet:
    a) Wir sind gestresst - zumindest tun wir im Alltag so. (Deutsches Referenzkorpus)
    Ersetzt man „gestresst“ durch ein Adjektiv wie beispielsweise „müde“ oder „gut“, so wird die adjektivische Verwendungsweise deutlich:
    b) Wir sind müde - zumindest tun wir im Alltag so.
    c) Wir sind gut - zumindest tun wir im Alltag so
    Sie haben des Weiteren nach der Funktion des Partizips II in einer Konstruktion wie in Beispiel a) gefragt. Der Satz „Wir sind gestresst“ besitzt als Prädikat das Verb „sein“. Dieses bedeutungsschwache Verb dient zur Verbindung von dem Subjekt des Satzes (wir) mit einem sogenannten Prädikativ. Das Verb „sein“ nennt man deshalb auch Kopulaverb. Das Prädikativ kann mit Adjektiven oder Substantiven gebildet werden:
    Anna ist Lehrerin.
    Anna ist müde.
    Anna ist gestresst.
    Somit kann auch das Partizip II „gestresst“ als Prädikativ auftreten.
    Eine zweite Lesart wäre, dass es sich bei „gestresst sein“ um das Zustandspassiv zu „stressen“ handelt. Das Zustandspassiv wird mit dem Hilfsverb „sein“ gebildet und unterscheidet sich dadurch vom Vorgangspassiv, welches mit „werden“ gebildet wird:
    Die Tür ist geöffnet. (Zustand)
    Die Tür wird geöffnet. (Vorgang)
    Sie sind gestresst. (Zustand)
    Sie werden gestresst. (Vorgang)
    Fasst man Ihr Beispiel als Zustandspassiv auf, so handelt es sich bei „gestresst“ nicht um ein Prädikativ. Hier dient das Partizip II der Realisierung des Zustandspassivs.
    Die Abgrenzung verschiedener grammatischer Einordnungen von sein + Partizip II stellt für die Grammatik eine große Herausforderung dar. Im vorliegenden Fall ist möglicherweise die Adjektivlesart naheliegender.

     


    Fazit
    Die Diskussionen lassen erkennen, dass man keine allgemeinen Aussagen dazu treffen kann, wie ein Partizip oder ein formal analoges Adjektiv vor einem Verb zu interpretieren ist. Das liegt vor allen Dingen daran, dass Partizipien sowohl als Bestandteile von Verbalkomplexen fungieren können (bspw. in einem Perfekt oder einem Passiv) als auch wie Adjektive verwendet werden können.


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