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Thema: Ist (speziell in der gesprochenen Sprache) ein Rückgang der mit "wo" gebildeten Umstandsfürwörter bzw. Interrogativa festzustellen (z.B. "an was?" statt "woran?" oder "über was?" anstelle von "worüber"

  1. #1
    Unregistriert Gast

    Standard Ist (speziell in der gesprochenen Sprache) ein Rückgang der mit "wo" gebildeten Umstandsfürwörter bzw. Interrogativa festzustellen (z.B. "an was?" statt "woran?" oder "über was?" anstelle von "worüber"

    Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
    Thema in einer von Bastian Sicks Kolumnen

    Ist (speziell in der gesprochenen Sprache) ein Rückgang der mit "wo" gebildeten Umstandsfürwörter bzw. Interrogativa festzustellen (z.B. "an was?" statt "woran?" oder "über was?" anstelle von "worüber")? Wenn ja, wie lässt sich dies erklären?

  2. #2

    Standard

    Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.

    Sprachsystem


    Ihre Frage betrifft sogenannte Pronominaladverbien, d.h. Zusammensetzungen aus Adverbien (da-, hier-, wo-) und einer Präposition, die sich pronominal verhalten. Für alle diese Formen stellt sich die Frage, ob sie kontinuierlich (davon, darauf, woran, worauf) oder diskontinuierlich (da... von, da... (d)rauf, wo...von, an... was, auf...was) gebildet werden sollten, unabhängig davon, ob es sich um interrogativ verwendete Pronominaladverbien handelt oder nicht.
    Ihre Frage bezieht sich zwar ausschließlich auf interrogativ verwendete Pronominaladverbien, da uns aber vor allem Forschungsliteratur zu Verbindungen mit da- vorliegt, werden wir uns bei der Beantwortung unserer Frage auf die Formen mit da- konzentrieren.
    Wir beziehen uns dabei auf eine noch unveröffentlichte Augsburger Dissertation zum Thema von Michaela Negele.
    Negele unterscheidet drei Möglichkeiten der Bildung diskontinuierlicher Pronominaladverbien:
    1. Spaltungskonstruktionen

    Beispiel

    Und mit dreiundzwanzig Kindern meinetwegen das Glück zu haben, vierzehn Tage Dauerregen zu haben, da muß man sich gegen wappnen, ja?

    2. Distanzverdopplung

    Beispiel

    Schwesterchen probiert das denn auf Vatis Schoß aus. Da ist es denn sicherer. Mutti ist da auch nicht mehr so ganz dafür, weil das viel zu schnell und hastig um die Kurven rum geht.

    3. Kurze Verdopplung

    Beispiel

    S1: Wie kommt das eigentlich? S2: Er ist fast luftdicht abgeschlossen da drin.


    Sprachsystematisch lässt sich die Tendenz zu diskontinuierlichen Verwendung der Pronominaladverbien (Typ 1 und 2) übrigens gut über die Neigung der deutschen Sprache zur Klammerstruktur erklären (bspw.: Wir haben uns gestern drei Stunden über das Wetter unterhalten): Diskontinuierliche Pronominaladverbien verhalten sich in dieser Hinsicht sozusagen systemkonform.
     


    Sprachgeschichte


    Historisch gesehen ist die diskontinuierliche Variante die ältere Variante. Im Althochdeutschen hat sich laut Negele im schriftlichen Medium die zusammengesetzte Variante als prestigeträchtig zunehmend durchgesetzt. Im mündlichen Medium hingegen existieren beide Varianten seit dem Althochdeutschen bis heute nebeneinander, sodass man nicht von einer aktuellen Entwicklungstendenz sprechen kann, wie Bastian Sick dies tut. Dass der diskontinuierliche Gebrauch der Pronominaladverbien den Gebrauch der einfachen Pronominaladverbien verdrängt, muss nicht befürchtet werden. Vielmehr kann man damit rechnen, dass uns die bereits im Althochdeutschen angelegte "Arbeitsteilung" - kontinuierliche Pronominaladverbien in der Schriftsprache, diskontinuierliche im Gesprochen - erhalten bleibt.
     


    Sprachvariation


    Zur regionalen Verteilung der verschiedenen Varianten der Verwendung der Pronominaladverbien liegen Erhebungen im Rahmen des Projekts "Atlas der deutschen Alltagssprache" (geleitet von Prof. Dr. Stephan Elspaß, Universität Augsburg) vor:
    http://www.philhist.uni-augsburg.de/...nde_1/f11_f12/
    Dem können wir entnehmen - so auch Negele -, dass in regionaler Hinsicht Unterschiede zwischen der Spaltungskonstruktion und der Distanzverdopplung vorliegen: Die Spaltungskonstruktionen kommen vorwiegend im niederdeutschen sowie im (west-)mitteldeutschen Sprachraum vor. Die Distanzverdopplung wird hingegen im gesamten deutschen Sprachraum verwendet.
     


    Sprachgebrauch

    Negele bietet auch Belege dafür, dass sich der Gebrauch diskontinuierlicher Pronominaladverbien auch in der überregionalen Presse nachweisen lässt:

    Beispiel

    Egal, ob Pferde, Elefanten oder Tiger, sagt Susanne Matzenau, Sprecherin des Zirkus Krone, Sie können Seelöwen mit keinem anderen Zirkustier vergleichen. Da liegen Welten dazwischen. Die geistige Elite des Tierreichs. Trotz solch ver-blüffender Gedächtnis- und Kognitionsleistungen wird bisher kaum mit Seelö-wen geforscht. (Die ZEIT online 2003; Michael Miersch)


    Beispiel

    Capellan: Herr Biedenkopf, wenn ein Ministerpräsident mit einem wichtigen ein-flussreichen Bauunternehmer befreundet ist – da haben wir ja nichts gegen –, er lässt sich einladen, birgt das die Gefahr von Abhängigkeit? Biedenkopf: Ich finde es sehr nett, dass Sie gesagt haben, da haben wir ja nichts dagegen. (Die ZEIT on-line 21/2001, Politik: Frank Cappelan/Kurt Biedenkopf)


    In beiden Belegen befinden sich die diskontinuierlichen Pronominaladverbien aber im Kontext wiedergegebener Rede, sodass - wie bereits angedeutet - aus solchen Verwendungen noch nicht auf einen Rückgang einfacher Pronominaladverbien geschlossen werden kann.
     


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    Geändert von Jacqueline Weiß (09.05.2016 um 23:30 Uhr)

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