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Thema: Benutzung von Perfekt und Präteritum in Romanen

  1. #1
    Unregistriert Gast

    Standard Benutzung von Perfekt und Präteritum in Romanen

    Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
    Beim Schreiben eines Romans

    Mit folgendem Nachschlagewerk versuchte ich dieser Frage auf den Grund zu gehen:
    diverse Internetforen

    Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Hennig und ihr Team,

    ich schreibe einen Roman und bin mir immer unsicherer, was die Zeitformen angeht. Als Beispiel möchte ich aus Herta Müllers "Der Fuchs war damals schon ein Jäger" zitieren, ein Roman, der wie meiner im Präsens geschrieben ist. Die folgende Passage ist ein Rückblick, bei dem mal Präteritum und mal Perfekt benutzt wird. Wie kann das sein?

    "Er lachte und lachte. Dann hat er gemerkt, dass er lacht, und sein Blick ist spitz geworden, er hat die Schultern eingezogen, und sein Muttermal hat auf der Halsader gezuckt. Er hat mich gehasst, weil er lachen musste. Seine Handgriffe wurden überstürzt, seine Hände waren wie Messer und Gabel, er nahm ein Blatt Papier aus seinem Aktenkoffer und legte einen Kugelschreiber auf den Tisch. Schreib, hat er gesagt." (S.213)

    Mir ist bekannt, dass die Vergangenheitsform in einem im Präsens geschriebenen Roman Perfekt ist, in einem im Präteritum geschriebenen Roman Plusquamperfekt. Vielleicht könnten Sie mir erklären, warum hier unterschiedliche Vergangenheitsformen auftauchen?

    In meinem Roman gestaltet sich ein fragwürdiger Absatz folgendermaßen:

    "Vera nimmt für sich in Anspruch, dass sie mich letzten Endes überzeugt hat, und sie hat in der Tat nichts unversucht gelassen. Zuerst erzählte sie mir, weder sie noch ihr Mann wollten ihren Sohn in Afrika wissen, und als das nicht wirkte, fragte sie mich, was Leila wohl dazu gesagt hätte."

    So scheint es mir richtig, aber ich kann nicht begründen, warum. Können Sie mir helfen? Da wäre ich Ihnen sehr dankbar.

    Mit freundlichen Grüßen
    Bart Kaiser

    bart44@hushmail.com

  2. #2

    Standard

    Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.

    Lieber Herr Kaiser,
    Ihre Frage ist deshalb nicht leicht zu beantworten, weil hier die Grenzen zwischen Grammatik, Konvention und Stil eher fließend sind. Es gibt zwar durchaus grammatische Regeln zur Unterscheidung der einzelnen Tempora, der Tempusgebrauch ist aber auch Gegenstand von nicht grammatisch zu erklärenden Konventionalisierungen, und das gilt nicht nur für den literarischen Bereich, sondern beispielsweise auch für den schulischen Deutschunterricht.

    Sprachsystem


    Aus grammatischer Hinsicht ist zunächst zu sagen, dass das Präsens eine Art "Atemporalis" ist, d.h. nicht auf eine Zeitstufe festgelegt:

    Beispiel

    (1) Ich gehe ins Kino (Gegenwart)
    (2) Morgen gehe ich ins Kino (Zukunft)
    (3) Gestern gehe ich ins Kino, da kommt ein Mann auf mich zu, reißt mir den Rucksack vom Leib... (Vergangenheit)
    (4) Jede Woche gehe ich ins Kino (Allgemeingültigkeit)

    Das Präteritum ist relativ klar auf die Vergangenheit festgelegt, Ausnahmen wie Beispiel (6) benötigen eine spezielle Kontextualisierung ( Lokal):

    Beispiel

    (5) Gestern gingen sie ins Kino.
    (6) Wer bekam das Bier?

    Das Plusquamperfekt gilt traditionell als das Tempus der Vorvergangenheit:

    Beispiel

    (7) Nachdem sie ins Kino gegangen waren, tranken sie ein Bier.

    Das Perfekt kann wie das Präteritum ein abgeschlossenes Ereignis in der Vergangenheit bezeichnen (8), aber auch ein vergangenes Geschehen mit resultativem Charakter, also Bezug zur Gegenwart (9 = Peter schläft jetzt):

    Beispiel

    (8) Gestern sind sie ins Kino gegangen.
    (9) Peter ist eingeschlafen.

    In der Tempusforschung wird häufig davon ausgegangen, dass es sinnvoll ist, einzelne Tempusformen zu Tempusgruppen zusammenzuschließen. So werden bspw. auch in der Dudengrammatik die Tempora Präsens, Perfekt, Futur I + II zur Tempusgruppe I zusammengeschlossen und die Tempora Präteritum und Plusquamperfekt zur Tempusgruppe II (§718-744). Das legt eine gewisse Affinität der Tempusformen Präsens und Perfekt einerseits und Präteritum und Plusquamperfekt anderseits zueinander nahe, wie sie ja auch Ihrer Einschätzung nach für literarische Texte gilt. Die Einteilung der Tempusformen in Tempusgruppen ist allerdings aus grammatischer Sicht nicht unumstritten, weil die Unterscheidung zwischen Präteritum und Perfekt häufig nicht so klar getroffen werden kann, wie diese Einteilung nahelegt. Die Wahl von Präteritum und Perfekt hängt vielmehr auch von außergrammatischen Faktoren wie Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit ab und wird innergrammatisch möglicherweise stärker durch die jeweiligen Verben beeinflusst (Modalverben werden bspw. auch in gesprochener Sprache im Präteritum verwendet) sowie durch bestimmte satzstrukturelle Eigenschaften als durch semantische Unterschiede.
     


    Sprachgebrauch


    Wenngleich die Einteilung der Tempusformen in Tempusgruppen aus grammatischer Hinsicht aus unserer Sicht problematisch ist, ist sie möglicherweise für den Gebrauch der Tempora in literarischen Texten hochrelevant. Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür bietet die Tempustheorie von Harald Weinrich (1964: "Tempus - besprochene und erzählte Welt", zusammenfassend nachzulesen in seiner "Textgrammatik der deutschen Sprache"). Er unterteilt die Tempora ähnlich wie die Dudengrammatik in Tempusgruppen, begründet das aber nicht grammatisch-semantisch, sondern pragmatisch, aus der Perspektive der Wirkung auf den Sprecher. Als Ausgangsbeispiel dient ihm folgender Abschnitt aus Thomas Manns "Goethes Laufbahn als Schriftsteller" (1935):
    (10)

    Beispiel

    Der 22. März 1832 war gekommen. In seinem Lehnstuhl, ein Oberbett über den Knien, den grünen Arbeitsschirm über den Augen, starb Goethe. Die Qualen und Ängste, die dem Tode oft in einigem Abstand vorangehen, waren vorüber, er litt nicht mehr, er hatte schon ausgelitten, und da man ihm auf seine Frage nach dem Datum den 22. genannt hatte, erwiderte er, so habe denn der Frühling begonnen und um so eher könne man sich erholen. Danach hob er die Hand und schrieb Zeichen in die Luft.
    […]
    Ein Schriftsteller. Es ist, meine Damen und Herren, eine recht unfruchtbare kritische Manie, zwischen Dichtertum und Schriftstellertum lehrhaft zu unterscheiden – unfruchtbar, weil die Grenze zwischen beiden nicht außen, zwischen den Erscheinungen, sondern im Innern der Persönlichkeit selbst verläuft und auch hier noch bis zur Unbestimmbarkeit fließend ist.

    Weinrich erklärt den Unterschied folgendermaßen:
    „Die Tempora des besprechenden Tempus-Registers, also Präsens, Perfekt und Futur, sind Instruktionen, die dem Hörer eine gespannte Rezeptionshaltung nahelegen. In binärer Opposition dazu geben die Tempora des erzählenden Tempusregisters, also Präteritum und Plusquamperfekt, dem Hörer zu verstehen, daß eine entspannte Rezeptionshaltung angebracht ist.“ (Weinrich 1993: 198)
    Das bedeutet: Das Präteritum ist das klassische Erzähltempus. Ein Rezipient erkennt also am Präteritum, dass ihm eine Geschichte erzählt wird. Er kann sich entspannt zurücklehnen und die Geschichte auf sich wirken lassen. Durch die besprechenden Tempora dagegen wird dem Rezipienten signalisiert, dass das Gesagte eine Relevanz für ihn hat, dass er sich bspw. im vorliegenden Textabschnitt von Thomas Mann mit der dort vertretenen These auseinandersetzen muss.
    Der Ansatz von Weinrich erklärt möglicherweise in Bezug auf literarische Texte, warum die koventionalisierten Tempusregeln hier häufig relativ streng eingehalten werden. Gerade Texte mit klassischer Erzählstruktur (auktorialer Erzähler) sind teilweise fast ausschließlich im Präteritum verfasst:

    Beispiel

    (11) Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot, so dass alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen
    der hastige Herr Zugeworfen. Auf das Zetergeschrei, das die Alte erhob, verließen
    die Gevatterinnen ihre Kuchen- und Branntweintische, umringten den jungen Menschen und schimpften mit pöbelhaftem Ungestüm auf ihn hinein, sodass er, vor Ärger und Schaum verstummend, nur seinen kleinen, nicht eben besonders wohlgefühlten Geldbeutel hinstreckte, den die Alte Begierig ergriff und schnell einsteckte. (E.T.A. Hoffmann „Der goldene Topf“)

    Ein Tempuswechsel von Präteritum zu Perfekt kann sehr bewusst eingesetzt werden, wie bspw. im Schlusssatz von Goethes Werther:

    Beispiel

    (12) Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht es nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.

    Wie Sie bereits selber angemerkt haben, haben wir es heute ja aber mit einer Diversifizierung von Erzählformen zu tun. Wir sind zwar weder Literaturwissenschaftler noch Schriftsteller, würden Ihnen aber auf der Basis der eigenen Erfahrungen mit literarischen Texten empfehlen, sozusagen mit aller Offenheit an moderne Formen des Erzählens heranzugehen. Herta Müller hätte ja keinen Nobelpreis bekommen, wenn sie das nicht offenbar gerade besonders gut verstehen würde. Wir haben also weder an dem Textausschnitt aus der "Affenschaukel" noch an Ihrem Romanausschnitt etwas auszusetzen. Möglicherweise entscheiden Sie sich intuitiv für das Präteritum in Erzählsituationen (worauf hier ja die Redeeinleitung sie erzählte mir hindeutet) und für das Perfekt, wenn etwas über das Ereignis in der Vergangenheit hinaus relevant zu sein scheint (sie hat mich überzeugt = ich bin jetzt überzeugt). Ein solch flexibler Umgang mit den jeweiligen Kontexten kann manchmal sinnvoller sein als eine strenge Beschränkung auf eine Tempusgruppe. Das hängt letzten Endes davon ab, was für literarische Akzente Sie setzen wollen, ob Sie also eher alltäglichen Sprachgebrauch abbilden wollen (das spräche dann für einen flexiblen Umgang mit den Tempora), oder ob Sie gerade mit einer festen sprachlichen Komposition bestimmte stilistische Wirkungen erziehlen wollen (wie bspw. Robert Schneider oder Christian Kracht).
    Wir sind gespannt auf Ihren Roman!
     

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