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Thema: Wo ist das Auxiliarverb?!

  1. #1

    Standard Wo ist das Auxiliarverb?!

    Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
    Geschichte von Arthur Schnitzler

    Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
    "F.A.Z."-Auszug eines Arthur Schnitzler Textes

    Kleve,
    den 4.7.14

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    ich schreibe Ihnen in der Hoffnung, Sie können mir vielleicht eine Lösung eines für mich rätselhaften grammatischen Usus ermöglichen. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat vor einiger Zeit einen Auszug einer neulich aufgetauchten Geschichte des Autors Arthur Schnitzler veröffentlicht. Bei drei der Sätze darin scheint für den unwissentlichen Leser bei dem Plusquamperfekt das Auxiliarverb zu fehlen. Kann es sich hier vielleicht um eine österreichische Redensart des Fin de Siècle handeln? Für Ihre Abhilfe wäre ich Ihnen sehr dankbar.

    Die drei Beispiele sind wie folgt:
    1. "Wie sie auf das Podium trat, ertönte Händeklatschen so lebhaft, wie es bisher noch nicht zu hören gewesen."
    2. "Saxberger ärgerte sich jetzt ein wenig, dass er früher seine Angst so unverhohlenen Ausdruck gegeben."
    3. "Er empfand nichts Besonderes dabei, kaum die Gelegenheit, die er eigentlich gefürchtet."

    Mit freundlichen Grüßen
    Malcolm Norman

  2. #2
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    Kassel
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    Standard Fehlen des Auxiliarverbs in Nebensätzen

    Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.

    Sprachsystem

    In den von Ihnen angeführten Sätzen fehlt am Ende in der Tat jeweils das finite Hilfsverb. In 1 ist es sein, in 2 und 3 haben. Wichtig ist dabei, dass die entsprechenden Einheiten, in denen das konjugierte Hilfsverb nicht realisiert wird, Nebensätze darstellen, die entweder durch Subjunktoren (wie wie in 1 und dass in 2) oder durch Relativpronomina (wie die in 3) eingeleitet werden. Es geht bei Ihren Beispielen also um die Ersparung des finiten Hilfsverbs in Verbletztstellung. Diese Erscheinung wird in der Sprachgeschichtsforschung afinite Konstruktion genannt. Möglich ist dabei vor allem die Weglassung von haben in den Tempora Perfekt und Plusquamperfekt, die von sein ebenda und im Passiv, zu finden sind aber auch weitere Auslassungen, so etwa die von sein neben prädikativen Adjektiven, vgl.:

    Beispiel

    1. auf daß es einst mir möge sagen, wie grün der Wald, den ich durchschritt (Th. Storm, Beispiel in der Deutschen Syntax von Otto Behaghel, Band III, S. 489)

    In 1 fehlt im fett gesetzten Teil ist, das Kopulaverb des Prädikates ist grün.
    Zu unterscheiden ist diese Konstruktion vor allem von Auslassungen, so genannten Ellipsen, in denen zwar ebenfalls ein finites Hilfsverb fehlt, dieses jedoch durch den Satzkontext ergänzt werden kann, vgl.:

    Beispiel

    2. Ich wusste nicht, dass das Buch gestern erst gelesen […] und dann verkauft wurde.

    In 2 kann die durch eckige Klammern gekennzeichnete leere Stelle, die sozusagen für das finite Hilfsverb zu gelesen gebucht ist, gefüllt werden, indem wurde rückläufig gesetzt wird (so genannte Rückwärtsellipse).
    Für afinite Konstruktionen ist hingegen typisch, dass ihr finites Hilfsverb nicht aus dem Satzkontext ergänzt werden kann, weil es nichts gibt, worauf zurückgegriffen werden könnte. So finden wir in den von Ihnen gezeigten Beispielen immer präteritale Verbformen (trat, ertönte, ärgerte sich, empfand), zu denen keine Hilfsverben gehören, die als Grundlage einer Ergänzung dienen könnten.
     


    Sprachgeschichte

    Afinite Konstruktionen sind grundsätzlich nicht als eine österreichische Redensart des Fin de Siècle anzusehen. In der Sprachgeschichtsforschung ist man sich darüber einig, dass ihre Entstehung vor allem der frühbürgerlichen Zeit zuzuordnen ist. Um 1400 findet man sie vereinzelt und bis etwa Anfang des 16. Jahrhunderts kommen sie selten vor. In der Barockzeit verbreiten sie sich dann massenhaft. Typisch ist dabei der Gebrauch solcher Konstruktionen in Kanzleitexten, in denen ihre Ausbreitung hauptsächlich stattfindet. Als ihre Blütezeit können das 17. und 18. Jh. gelten, ab dem 19. Jh. werden sie rückläufig.
    Interessant ist aus der Sicht der Sprachgeschichtsforschung vor allem der Ursprung afiniter Konstruktionen. Die ältere Forschung vermutete ein lateinisches Vorbild (Urkundensprache des 14. Jhts.), Peter von Polenz schreibt jedoch im ersten Band seiner Sprachgeschichte (2000, S. 219), dass der lateinische Einfluss überschätzt worden ist. Gebrauchshäufigkeit und Verbreitung können nach ihm zwar durch lateinische Texte beeinflusst worden sein, die grammatische Struktur selbst (d.h. das Fehlen eines finiten Hilfsverbs in Nebensatzstellung) sei jedoch altdeutscher Herkunft. Auch Otto Behaghel bestreitet die lateinische Herkunft und führt afinite Konstruktionen auf die oben erwähnten Rückwärtsellipsen (s. Bsp. 2) zurück (Deutsche Syntax, Band III, S. 491). Insgesamt hängt der immer häufigere Gebrauch solcher Konstruktionen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert nach Peter von Polenz grundsätzlich mit der Tendenz zusammen, Nebensätze von Hauptsätzen klar zu unterscheiden. In diesem Sinne ist das Fehlen eines finiten Hilfsverbs in Endstellung insofern als eine Art „Übercharakterisierung“ von Nebensätzen (Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, Band II, 1994, S. 278) zu deuten, als dadurch der Nebensatzcharakter, d.h. die Unselbständigkeit solcher Sätze, herausgestellt werden kann.
     

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