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Thema: Inwieweit hat sich "es sich wohlsein lassen" verändert? Woher kommt das "es" darin?

  1. #1

    Standard Inwieweit hat sich "es sich wohlsein lassen" verändert? Woher kommt das "es" darin?

    Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
    Ein peruanischer Übersetzer fragte mich anläßlich seiner Nietzsche-Übersetzung ins Spanische danach.

    Mit folgendem Nachschlagewerk versuchte ich dieser Frage auf den Grund zu gehen:
    Duden-Grammatik, Forum bei wordreference.com

    Das fragliche Zitat lautet "Heil, Heil jenem Walfische, wenn er also es seinem Gaste wohlsein liess!". Die erste Frage des spanischen Übersetzers lautete dahingehend, woher das "es" komme, bzw. was es dort solle. Ich sagte, das gehöre nun mal zu dem Ausdruck "es sich wohlsein lassen". Dies führte zu viel Verwirrung, denn in der Tat, Nietzsche gebraucht es ja ohne "sich", als "es jemandem wohlsein lassen". Nun kann ich mir aber keinen modernen deutschen Satz in dieser Art vorstellen - wie kommt das? Hat sich das Verb seit Nietzsches Zeiten hin zum Reflexiven geändert?
    Die nächste Frage lautet, ob das "es" vom Verb "lassen" abhängt. Ich vermute, nein, aber es wollen mir auch keine anderen Verben einfallen, die ebenfalls zwingend dieses mysteriöse "es" erfordern.
    Im Duden habe ich "es" sonst nur noch im Zusammenhang mit der "können"-Variante ("Mit diesem Stift schreibt es sich gut") gefunden, bzw. in "Auf dem Fest ging es hoch her", was in meinen fachlich nicht weiter gebildeten Augen ziemliche Nähe zu "Es regnet" aufweist, zumindest insofern als "es" so eine Art Ersatz-Subjekt darstellt, was bei "wenn er es seinem Gaste wohlsein ließ" nicht der Fall ist, oder? Genau so wenig wie bei "Sie ließen es sich am Strand wohlsein/gutgehen".
    Für eine Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Alharacas

  2. #2
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    Standard "es sich wohl sein lassen" - Bestimmung des "es" & Wandel der Reflexivierung

    Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.

    Sprachsystem


    Ihre Frage zur Wendung es sich wohl sein lassen bezieht sich zum einen auf die grammatische Funktion des darin vorkommenden Wortes es und zum anderen auf einen möglichen Wandel in der Benutzung des gesamten Ausdrucks, da jener in ihrer Quelle aus dem 19. Jh. ohne sich vorkommt. Die erste Frage zum es wird in diesem Abschnitt behandelt werden, während sich die Antwort zum scheinbar neuerlich reflexiven Gebrauch unter ‚Sprachgeschichte‘ findet.

    Bei dem Ausdruck es sich wohl sein lassen handelt es sich um eine idiomatische Wendung, was bedeutet, dass diese Verbindung eine Bedeutung hat, die sich i. d. R. nicht direkt von der Bedeutung der einzelnen Bestandteile ableitet. So ist beispielsweise die Bedeutung von lassen in der besagten Wendung bestimmt nicht, etwas nicht mehr zu tun oder etwas nicht zu entfernen. Die veränderte Bedeutung in dieser idiomatischen Verwendung wirkt sich allerdings nicht direkt auf die grammatische Funktion von lassen aus. So zählt lassen zu den transitiven Verben, was heißt, dass es neben dem Subjekt ein Akkusativobjekt fordert.

    Beispiel


    (1) Sie lässt das ständige Anrufen.


    Genaugenommen ist lassen in der idiomatischen Wendung es sich wohl sein lassen kein transitives Verb, da es kein Akkusativobjekt mit semantischer (=die Bedeutung betreffend) Rolle als Mitspieler fordert. Dennoch eröffnet es aber eine Leerstelle, die durch das formale Objekt es besetzt wird, das in diesem Beispiel nicht ersetzt werden kann, wie Beispiel 3 veranschaulicht. (vgl. Duden 4: 396 f.; Randnummer 539 & Duden 4: 822 f.; Randnummer 1261).

    Beispiel


    (2) Sie lässt es sich wohl sein.
    (3) *Sie lässt den Eltern sich wohl sein.


    Dieses unpersönliche es findet sich auch in Verbindung mit anderen Verben, insbesondere mit Witterungsverben wie blitzen, regnen, hageln und schneien. Entsprechend war Ihre Vermutung richtig. Jedoch hat das Pronomen es in diesen Fällen eine andere grammatische Funktion, da es die Subjektleerstelle besetzt und im Unterschied zum akkusativischen es im Vorfeld, also vor dem finiten Verb, steht (vgl. Duden 4: 405 f.; Randnummer 560 f.).

    Beispiel


    (4) Es regnet.
    (5) *Es lässt sie sich wohl sein.


    Weitere Verben, die ebenfalls es als formales Objekt verlangen sind beispielsweise „es gut (schlecht) haben mit jdm., es auf jdn./etw. abgesehen haben, es auf etw. anlegen, es sich mit jdm. verderben, es bei etw. belassen [und] es mit jdm./etw. zu tun bekommen“ (grammis: „Die From es und ihre Verwendung“).
     


    Sprachgeschichte


    Im Folgenden soll nun die Entwicklung des Verbs nachgezeichnet werden, wobei mit der Verwendung von wohl sein im Gegenwartsdeutschen begonnen wird. Unter dem Lemma „wohl“ steht im Deutschen Universalwörterbuch unter anderem die folgende Verwendung:

    Beispiel


    (1) „[S]ie haben es sich wohl sein (gut gehen) lassen“ (DUW: 2023).


    Dies zeigt zwei Dinge. Erstens wird deutlich, dass es sich wohl sein lassen im heutigen Sprachgebrauch rein reflexiv verwendet wird, und zweitens, dass es synonym (=gleichbedeutend) zu es sich gut gehen lassen ist. Letzteres ist insofern interessant, als es sich gut gehen lassen eine wesentlich geläufigere Wendung ist, die sich besser im Archiv der geschriebenen Sprache in COSMAS II, einem digitalen Korpus (=Belegsammlung), suchen lässt. Bei einer Suchanfrage, in der die Stelle, die durch sich besetzt wird, offen gelassen wurde, waren alle 182 Treffer dennoch reflexiv, sodass im Grunde ausgeschlossen werden kann, dass gegenwärtig noch eine nicht-reflexive Variante existiert.

    Für die weitere Erklärung, weswegen die besagte Wendung bei Nietzsche ohne Reflexivpronomen auftritt, ist zunächst der Unterschied zwischen reflexiven Verben und reflexiv gebrauchten Verben zu erläutern. Bei beiden Arten ist die Objektleerstelle, reflexiviert, was bedeutet, dass sich das Objekt hinsichtlich grammatischer Person und Numerus kongruent zum Subjekt verhält, da es sich bei Objekt und Subjekt um dieselbe Person handelt. So stehen in ich wasche mich Subjekt und Objekt beide in der ersten Person Singular. Der Unterschied zwischen beiden Arten von reflexiven Verben wird durch die Frageprobe erkennbar, da sich das Objekt bei echt reflexiven Verben nicht erfragen lässt, was bei reflexiv gebrauchten Verben keine Schwierigkeit darstellt (vgl. Duden 4: 399 f.; Randnummer 547 f. & Duden 4: 402 f.; Randnummer 552).

    Beispiel


    (2) Die Frau setzte sich. (echt reflexiv)
    (3) *Wen setzte die Frau?
    (4) Die Frau erschoss sich. (reflexiv gebraucht)
    (5) Wen erschoss die Frau?


    Mit dem Wissen um diese Arten von reflexiven Verben kann man nun schlussfolgern, dass es sich wohl sein lassen für Nietzsche kein echt reflexives Verb war, sondern nur reflexiv gebraucht wurde. Entsprechend konnte er die Leerstelle, die im heutigen Sprachgebrauch nur mit einem reflexiven Ausdruck wie sich belegt wird, ebenso mit einem anderen Dativobjekt besetzen. Besonders bei reflexiv gebrauchten Verben mit Akkusativobjekt lässt sich dies gut zeigen.

    Beispiel


    (6) Er kämmt sich.
    (7) Er kämmt den Kunden.


    Belege dafür, dass diese Verwendung auch bei es sich wohl sein lassen nicht unüblich war, findet man im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm unter dem Lemma wohl im Abschnitt IA5b (http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle...&lemid=GW24777).

    Beispiel


    (8) er laszt ihm wol seyn il est à son aise, otio perfruitur Wiederhold (1669) 424b
    (9) möchten sie ihnen doch ein wenig wohl seyn lassen Lohenstein Arminius (1689f.) 1, 585b


    Beide Beispiele stammen zugegebenermaßen aus einer Zeit, die deutlich vor Nietzsche liegt. Dennoch weisen sie nach, dass die untersuchte Wendung nicht immer rein reflexiv war. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass sich Sprachwandel grundsätzlich sehr langsam und mit regionalen Unterschieden vollzieht, sodass es möglich ist, dass Nietzsches Sprachgebrauch vielleicht schon zu seiner Zeit selten war, aber noch der Norm entsprach. Weiterhin lässt sich noch mutmaßen, dass Nietzsche als Altphilologe möglicherweise auch Sprachpfleger war und daher bewusst auf ältere Formen zurückgriff. Hierbei jedoch handelt es sich nur um Spekulation.

    Fazit: Mithilfe des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm konnte belegt werden, dass die idiomatische Verbindung es sich wohl sein lassen sich bis ins späte 17. Jh. und vielleicht darüber hinaus als reflexiv gebrauchtes Verb vorkam und somit erst später rein reflexiv wurde. Das Zitat „Heil, Heil jenem Walfische, wenn er also es seinem Gaste wohlsein liess!“, bei dem die Leerstelle des Dativobjekts durch seinem Gaste besetzt wird, entspricht dieser älteren Verwendungsweise.
     

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  3. #3
    4915154844792/Alharacas Gast

    Standard Danke

    Sehr geehrter Herr Koch,

    haben Sie vielen Dank für Ihre umfassende Antwort. Es ist schön, daß Sie auf sämtliche Aspekte meiner Frage so ausführlich eingegangen sind. Ich hoffe, meinem peruanischen Übersetzerfreund nun erklären zu können, wie es sich verhält.

    Herzliche Grüße,
    Susanne Walter

  4. #4
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    Gießen
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    85

    Standard Gern geschehen :)

    Sehr geehrte Frau Walter,

    es freut mich sehr, dass die Antwort Ihren Erwartungen entspricht. Ihre präzise formulierten Fragen sowie Ihre Hypothesen, die im Grunde bestätigt wurden, waren überaus hilfreich.

    Sollten Ihnen in Zukunft weitere grammatische Zweifelsfälle oder Fragen begegnen, stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne wieder zur Verfügung.

    Mit herzlichen Grüßen
    Dennis Koch

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