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Thema: Warum ist "die Situation, wo ich mir dachte" falsch?

  1. #1
    Unregistriert Gast

    Standard Warum ist "die Situation, wo ich mir dachte" falsch?

    Der inflationäre Gebrauch des Wortes "wo" an Orten, an die es nicht hingehört stört mich. Man hört beispielsweise oft Sätze wie "...das war der Moment, wo ich mir dachte..." statt "...der Moment, in dem ich mir dachte..." Welche Regel ist hier maßgeblich?

  2. #2

    Standard "wo" als Relativsatzeinleiter

    Sprachsystem

    Um Ihre Frage zu beantworten, gilt es zunächst einmal festzustellen, was das Wörtchen wo „darf“ und was nicht, d. h. welche Funktionen es in einem Satz übernehmen kann. So würde man das Fragewort wo, mit dem nach einem Ort gefragt wird, der Wortart Adverb zuordnen.

    Beispiel

    (1) „Wo wohnen Sie?“ – „In Gießen.“ > Fragehauptsatz
    (2) „Ich frage mich, wo sie wohnt.“ > Fragenebensatz (indirekter Fragesatz)


    In Ihren Beispielen die Situation, wo ... und der Moment, wo ... liegen allerdings weder direkte noch indirekte Fragesätze vor, sondern Relativsätze. Relativsätze sind Nebensätze, die sich auf ein Element des übergeordneten Satz beziehen und nähere Informationen zu diesem liefern. Typischerweise werden sie durch Relativpronomina (vor allem der, die, das und welcher, welche, welches) eingeleitet.

    Beispiel

    (3) Er las das Buch, das/welches ich ihm geschenkt hatte. (vgl. Duden 2009: 1030)
    (4) Walhalla ist der Ort, an den/an welchen Odin die gefallenen Krieger beruft.


    Geht dem Relativpronomen wie in Beispiel (4) eine Präposition voraus, können Präposition und Relativpronomen sehr oft auch durch ein Adverb ersetzt werden, das dann deren Funktion als Relativsatzeinleiter übernimmt.

    Beispiel

    (4a) Walhalla ist der Ort, wohin Odin die gefallenen Krieger beruft.


    Dementsprechend kann auch das Adverb wo die Funktion des Relativsatzeinleiters übernehmen (Peter Eisenberg nennt es dann ein Relativadverb, vgl. Eisenberg 2006: 277).

    Beispiel

    (5) Heimat ist für mich der Ort, wo man Kindheit und Jugend verbringt (oder: an dem man Kindheit und Jugend verbringt)


    Dass man sich mit einem solchen mit wo eingeleiteten Relativsatz auf einen Ort beziehen kann, ist daher vermutlich unumstritten. Aber auch der Bezug auf einen Zeitpunkt oder eine Zeitspanne wird von aktuellen Nachschlagewerken zur deutschen Grammatik anerkannt.

    Beispiel

    (6) der Augenblick, wo er sie sah (oder: in dem/als er sie sah)
    (7) die Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat (oder: in der/als das Wünschen noch geholfen hat) (vgl. Wahrig „Fehlerfreies und gutes Deutsch“)


    Demzufolge sind auch Verwendungsweisen wie die Situation, wo ... und der Moment, wo ... nicht falsch.
     


    Sprachgeschichte

    Sprachliche Ausdrücke, die sich auf Zeitliches beziehen, haben zuweilen einen räumlichen Hintergrund. So ist z. B. die Spanne ursprünglich ein Längenmaß, also ein Maß der räumlichen Ausdehnung. Wenn jedoch von einer Zeitspanne die Rede ist, geht es nicht mehr um eine räumliche, sondern um eine zeitliche Ausdehnung. Die Vorstellung einer räumlichen Ausdehnung wurde somit metaphorisch auf den Bereich des Zeitlichen übertragen. Eine solche metaphorische Übertragung lässt sich auch bei einigen anderen Wörtern feststellen.

    Beispiel

    zwischen Berlin und Bonn“ (räumlich) > „zwischen Ostern und Pfingsten“ (zeitlich)
    nach dem Stoppschild“ (räumlich) > „nach 18 Uhr“ (zeitlich)
    Dementsprechend: „in dem Land, wo die Zitronen blühen“ (räumlich) > „in dem Jahr, wo die Zitronen besonders schön geblüht haben“ (zeitlich) (Beispiele aus Grammis)
     


    Sprachvariation

    Bei Bezug auf Räumliches und Zeitliches wird wo als Einleiter eines Relativsatzes von den Grammatiken inzwischen als standardsprachlich anerkannt, obwohl manche Sprecher es in dieser Funktion für stilistisch fragwürdig halten. Bei Bezug auf Personen und Sachen gilt die Konstruktion jedenfalls (noch) als „sehr stark umgangssprachlich“ (Wahrig 5) oder als dialektal. Insofern werden Sie Äußerungen wie die folgenden vor allem im „Alemannischen, Schwäbischen, Fränkischen, Mittelhessischen und teilweise im Bairischen“ (Grammis) antreffen.

    Beispiel

    Der Mann, wo [statt: der] vorhin vorbeiging
    Das Geld, wo [statt: das] auf der Bank liegt (vgl. Duden 9)
     


    Sprachgebrauch

    Sowohl bei Google als auch im Zeitungskorpus des Instituts für Deutsche Sprache wird der Bezug zu einem zeitlichen Substantiv im Relativsatz meist mit Hilfe einer Präposition + Relativpronomen hergestellt. So macht etwa die Konstruktion der Moment, in dem ... bei Google wie auch im IDS-Korpus 55 % der Funde aus. Der Moment, wo ... findet sich bei Google häufiger als in den Zeitungstexten (Google: 29 %; IDS: 20 %), während die Variante der Moment, als ... in letzteren vermehrt anzutreffen ist (IDS: 25 %; Google: 16 %).
     


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