Dass sich über den Artikelgebrauch im Deutschen auch Muttersprachler untereinander nicht immer einig sind, zeigt der folgende Wortwechsel aus einer Ausgabe der Ratesendung „Wer wird Millionär?“, die kürzlich im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Beispiel
Kandidatin: „Ich wohne noch bei Eltern.“
Moderator: „Das heißt: Ich wohne noch bei
den Eltern. Oder: bei
meinen Eltern.“
Während die Konstruktion
noch bei Eltern wohnen für die junge Kandidatin vollkommen geläufig und „normal“ war, empfand der Moderator Günther Jauch diese als ungrammatisch und verlangte den Einsatz des definiten Artikels
den oder des possessiven Artikelworts
meinen. Offenbar störte ihn der fehlende Artikel so sehr, dass er es für nötig hielt, die Kandidatin vor einem Millionenpublikum zu „korrigieren“.
Nun ist der Artikelgebrauch im Deutschen ist ein recht komplexes Gebiet, das an dieser Stelle keinesfalls umfassend behandelt werden kann. Die „Deutsche Grammatik“ von Gerhard Helbig und Joachim Buscha (Langenscheidt, zuletzt erschienen 2008), die sich speziell an Deutschlernende richtet, behandelt das Thema „Artikelgebrauch“ aber sehr übersichtlich und natürlich bietet auch die Dudengrammatik (8. Auflage) einen Überblick darüber, wann der definite (bestimmte) Artikel und wann der indefinite (unbestimmte) Artikel verwendet wird (S. 291-302 und S. 330-332). In diesen Abschnitten sind außerdem Informationen dazu enthalten, wann im Deutschen gar kein Artikel steht. Kurz zusammengefasst:
1. Der indefinite Artikel (
ein, eine, ein) steht laut Dudengrammatik hauptsächlich dann, wenn er ein Substantiv im Singular begleitet, das das Merkmal „zählbar“ aufweist, und wenn kein Grund für die Wahl eines anderen Artikelworts besteht.
2. Ein Grund für die Wahl eines anderen Artikels ist beispielsweise, dass das Substantiv als „hinreichend identifiziert“ gilt, also
a) dass die Person oder Sache, die durch das Substantiv bezeichnet wird, einmalig ist bzw. aktuell nur eine Person oder Sache in Frage kommt. Dann steht der definite Artikel (z. B.
Der Papst besucht Deutschland).
b) dass von der Person oder der Sache, die durch das Substantiv bezeichnet wird, schon die Rede gewesen ist. Dann steht in der Regel ebenfalls der definite Artikel (z. B. wenn in einer Gruppe schon darüber gesprochen wurde, dass Peter sich ein neues Auto bestellt hat. Nun berichtet jemand:
Peter hat das Auto nun bekommen).
c) dass die Person oder Sache durch bestimmte sprachliche Mittel in der Äußerung selbst identifiziert wird, z. B. durch ein Genitivattribut oder durch einen Relativsatz. Das betreffende Substantiv steht in diesem Fall gewöhnlich mit dem definiten Artikel (z. B.
Endlich kam der Tag, auf den er sich so lange gefreut hatte).
3. Eigennamen stehen entweder ohne Artikel (
Anna hat mich gestern besucht, umgangssprachlich aber auch:
Die Anna hat mich gestern besucht) oder mit dem definiten Artikel, wenn sie um ein Attribut erweitert sind (die kluge Anna). Des Weiteren steht der definite Artikel bei bestimmten Ländernamen (die Schweiz, die Niederlande).
4. Bei verallgemeinernden Aussagen ist die Variationsbreite des Artikelgebrauchs besonders groß: Hier kann sowohl der definite Artikel auftreten (
Die Lärche verliert im Winter ihre Nadeln) als auch der indefinite Artikel, wenn man sich ein typisches Exemplar der Gattung vorstellt (
Eine Lärche verliert im Winter ihre Nadeln). Möglich ist auch ein artikelloser Plural (
Lärchen verlieren im Winter ihre Nadeln) oder der Einsatz eines anderen Artikelworts (z. B.
Jede Lärche verliert im Winter ihre Nadeln / Alle Lärchen verlieren im Winter ihre Nadeln).
Die oben genannten „Regeln“ gelten in erster Linie für den „
freien Gebrauch“ des Artikels, also für Fälle, in denen der Sprecher/Schreiber tatsächlich selbst entscheiden kann und muss, welchen Artikel er einsetzt. Die von Ihnen genannten Fälle
zu Wort kommen und
vom Leder ziehen sind jedoch etwas anders gelagert. Man könnte argumentieren, dass es sich bei dem Leder, von dem hier die Rede ist, um ein bestimmtes Leder handelt, nämlich um die Schwertscheide desjenigen, der seine Waffe daraus zieht. Vom Leder ziehen bedeutet demnach so etwas wie „den Kampf aufnehmen“. Wenn jemand nicht zu Wort kommt, ist
Wort dagegen wohl eher in einem unbestimmten Sinne gemeint.
Zudem handelt sich bei
zu Wort kommen und
vom Leder ziehen um
feste Wendungen des Deutschen, sogenannte
Phraseologismen, die relativ fest im Sprachgebrauch verankert sind. Solche festen Wendungen sind innerhalb der Sprachgemeinschaft so stark konventionalisiert, dass sie in der Regel auch in Wörterbüchern aufgeführt sind und von Deutschlernern quasi wie eine Vokabel gelernt werden müssen. Dazu gehört natürlich auch der für die Wendung übliche Artikel, denn wenn man eine dieser Konstruktionen verwenden will, wird man sie genau so verwenden, also mit genau diesem Artikel oder eben ohne Artikel. Variiert man bestimmte Teile der Wendung, z. B. den Artikel, kann es passieren, dass dieser abweichende Sprachgebrauch von den Zuhörern/Lesern sanktioniert („bestraft“) wird, wie wir am Beispiel der Kandidatin aus „Wer wird Millionär?“ gesehen haben.