In Ihren fünf Beispielen finden wir jeweils das Modalverb
dürfen. Einer klassischen Gegenüberstellung zufolge werden Modalverben in deontische (nicht-sprecherbezogene) oder epistemische (sprecherbezogene) Modalverben unterteilt. In dem Beispiel
Peter darf ein Eis essen ist kein Sprecher auszumachen; hier wird vor allem eine Erlaubnis ausgedrückt. Es handelt sich hier um den so genannten deontischen Gebrauch des Modalverbs
dürfen. In dem Beispiel
Peter dürfte bereits schlafen wird deutlich, dass ein Sprecher sich nicht sicher darüber ist, ob Peter schläft. Hier haben wir den epistemischen Gebrauch des Modalverbs
dürfen. Ihre Vermutung, dass mit
dürfen in den obigen Beispielen eine Möglichkeit ausgedrückt wird, geht also in die richtige Richtung. In Ihren Beispielen drückt ein Sprecher eine bestimmte (aus seiner Perspektive allerdings ungewisse) Möglichkeit eines Sachverhaltes aus – das Modalverb
dürfen wird jeweils epistemisch gebraucht.
Epistemische Modalverben haben nur ein beschränktes Flexionsparadigma, d.h. ihnen stehen im Gegensatz zu den deontischen Modalverben nicht alle Möglichkeiten der Verbkonjugation zur Verfügung. Das Flexionsparadigma ist in Bezug auf Tempus und Modus stark eingeschränkt: Beispielsweise gibt es epistemische Modalverben nur im Präsens und im Präteritum. Die epistemischen Modalverben
mögen, sollen und
wollen kommen nur im Indikativ vor. Bei
dürfen ist die Beschränkung besonders stark:
dürfen kann demnach nur in der Konjunktiv-II-Form (also
dürfte(n)) epistemisch sein.
Der von Ihnen festgestellte Zusammenhang mit
werden dürfte eher zufällig sein: Im Allgemeinen verbinden sich Modalverben mit Infinitiven von Vollverben: Sie können also zusammen mit dem Infinitiv-Präsens-Aktiv (1) (
verkaufen müssen), dem Infinitiv-Perfekt-Aktiv (2) (
verkauft haben), dem Infinitiv-Präsens-Passiv (3) (
verkauft werden) und dem Infinitiv-Perfekt-Passiv (4) (
verkauft worden sein) auftreten:
Beispiel
(1) Wir müssen den Porsche verkaufen.
(2) Er muss den Porsche verkauft haben
(3) Der Porsche muss verkauft werden.
(4) Der Porsche muss verkauft worden sein.
Der epistemische Gebrauch ist häufig bei Infinitiv-Perfekt-Verbindungen anzutreffen (Beispiel 2) – dies ist allerdings nicht notwendig so, wie Ihre Beispiele zeigen. In Ihren in der Frage genannten Beispielen 1 und 3 wird das epistemische Modalverb
dürfen zusammen mit dem Infinitiv-Präsens-Passiv verwendet. Bei
werden handelt es sich in diesen Fällen also um das Hilfsverb des
werden-Passiv. Dass
werden nicht regelhaft zusammen mit epistemischen Modalverben verwendet wird, zeigen Ihre Beispiele 2 und 4. Hier wird das epistemische Modalverb zusammen mit dem Infinitiv-Präsens-Aktiv verwendet. Es gibt allerdings auch Verbindungen, in denen
werden vorkommt, ohne dass es sich dabei um das Hilfsverb des Passivs handelt. Dies zeigt Ihr Beispiel 5, bei dem
werden ein Kopulaverb ist. Kopulaverben sind
sein, bleiben und
werden – mit ihnen werden auf semantischer Ebene zwei Sachverhalte gleich gesetzt (z.B.
Petra ist schön, also Petra = schön).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verwendungen des Modalverbs
dürfen in Ihren Beispielen epistemisch sind. Die epistemische Lesart wird durch die Konjunktiv-II-Verwendung hergestellt. Ein nächster Schritt in der Bestimmung wäre, nach dem Infinitiv zu schauen, mit dem das Modalverb einen Verbalkomplex bildet. Dieser Infinitiv kann ein
werden enthalten, muss es aber nicht. Es ist bei der Bestimmung solcher Verbalkomplexe mit Modalverben folglich zu beachten, dass nicht der Verbalkomplex als Ganzes betrachtet wird. Es empfiehlt sich, die Kategorien des Modalverbs und des Infinitivs gesondert zu bestimmen.