Wenngleich die Einteilung der Tempusformen in Tempusgruppen aus grammatischer Hinsicht aus unserer Sicht problematisch ist, ist sie möglicherweise für den Gebrauch der Tempora in literarischen Texten hochrelevant. Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür bietet die Tempustheorie von Harald Weinrich (1964: "Tempus - besprochene und erzählte Welt", zusammenfassend nachzulesen in seiner "Textgrammatik der deutschen Sprache"). Er unterteilt die Tempora ähnlich wie die Dudengrammatik in Tempusgruppen, begründet das aber nicht grammatisch-semantisch, sondern pragmatisch, aus der Perspektive der Wirkung auf den Sprecher. Als Ausgangsbeispiel dient ihm folgender Abschnitt aus Thomas Manns "Goethes Laufbahn als Schriftsteller" (1935):
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Beispiel
Der 22. März 1832 war gekommen. In seinem Lehnstuhl, ein Oberbett über den Knien, den grünen Arbeitsschirm über den Augen, starb Goethe. Die Qualen und Ängste, die dem Tode oft in einigem Abstand vorangehen, waren vorüber, er litt nicht mehr, er hatte schon ausgelitten, und da man ihm auf seine Frage nach dem Datum den 22. genannt hatte, erwiderte er, so habe denn der Frühling begonnen und um so eher könne man sich erholen. Danach hob er die Hand und schrieb Zeichen in die Luft.
[…]
Ein Schriftsteller. Es ist, meine Damen und Herren, eine recht unfruchtbare kritische Manie, zwischen Dichtertum und Schriftstellertum lehrhaft zu unterscheiden – unfruchtbar, weil die Grenze zwischen beiden nicht außen, zwischen den Erscheinungen, sondern im Innern der Persönlichkeit selbst verläuft und auch hier noch bis zur Unbestimmbarkeit fließend ist.
Weinrich erklärt den Unterschied folgendermaßen:
„Die Tempora des besprechenden Tempus-Registers, also Präsens, Perfekt und Futur, sind Instruktionen, die dem Hörer eine gespannte Rezeptionshaltung nahelegen. In binärer Opposition dazu geben die Tempora des erzählenden Tempusregisters, also Präteritum und Plusquamperfekt, dem Hörer zu verstehen, daß eine entspannte Rezeptionshaltung angebracht ist.“ (Weinrich 1993: 198)
Das bedeutet: Das Präteritum ist das klassische Erzähltempus. Ein Rezipient erkennt also am Präteritum, dass ihm eine Geschichte erzählt wird. Er kann sich entspannt zurücklehnen und die Geschichte auf sich wirken lassen. Durch die besprechenden Tempora dagegen wird dem Rezipienten signalisiert, dass das Gesagte eine Relevanz für ihn hat, dass er sich bspw. im vorliegenden Textabschnitt von Thomas Mann mit der dort vertretenen These auseinandersetzen muss.
Der Ansatz von Weinrich erklärt möglicherweise in Bezug auf literarische Texte, warum die koventionalisierten Tempusregeln hier häufig relativ streng eingehalten werden. Gerade Texte mit klassischer Erzählstruktur (auktorialer Erzähler) sind teilweise fast ausschließlich im Präteritum verfasst:
Beispiel
(11) Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot, so dass alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen
der hastige Herr Zugeworfen. Auf das Zetergeschrei, das die Alte erhob, verließen
die Gevatterinnen ihre Kuchen- und Branntweintische, umringten den jungen Menschen und schimpften mit pöbelhaftem Ungestüm auf ihn hinein, sodass er, vor Ärger und Schaum verstummend, nur seinen kleinen, nicht eben besonders wohlgefühlten Geldbeutel hinstreckte, den die Alte Begierig ergriff und schnell einsteckte. (E.T.A. Hoffmann „Der goldene Topf“)
Ein Tempuswechsel von Präteritum zu Perfekt kann sehr bewusst eingesetzt werden, wie bspw. im Schlusssatz von Goethes Werther:
Beispiel
(12) Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht es nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.
Wie Sie bereits selber angemerkt haben, haben wir es heute ja aber mit einer Diversifizierung von Erzählformen zu tun. Wir sind zwar weder Literaturwissenschaftler noch Schriftsteller, würden Ihnen aber auf der Basis der eigenen Erfahrungen mit literarischen Texten empfehlen, sozusagen mit aller Offenheit an moderne Formen des Erzählens heranzugehen. Herta Müller hätte ja keinen Nobelpreis bekommen, wenn sie das nicht offenbar gerade besonders gut verstehen würde. Wir haben also weder an dem Textausschnitt aus der "Affenschaukel" noch an Ihrem Romanausschnitt etwas auszusetzen. Möglicherweise entscheiden Sie sich intuitiv für das Präteritum in Erzählsituationen (worauf hier ja die Redeeinleitung
sie erzählte mir hindeutet) und für das Perfekt, wenn etwas über das Ereignis in der Vergangenheit hinaus relevant zu sein scheint (
sie hat mich überzeugt = ich bin jetzt überzeugt). Ein solch flexibler Umgang mit den jeweiligen Kontexten kann manchmal sinnvoller sein als eine strenge Beschränkung auf eine Tempusgruppe. Das hängt letzten Endes davon ab, was für literarische Akzente Sie setzen wollen, ob Sie also eher alltäglichen Sprachgebrauch abbilden wollen (das spräche dann für einen flexiblen Umgang mit den Tempora), oder ob Sie gerade mit einer festen sprachlichen Komposition bestimmte stilistische Wirkungen erziehlen wollen (wie bspw. Robert Schneider oder Christian Kracht).
Wir sind gespannt auf Ihren Roman!