In Ihrer Frage thematisieren Sie possessive, also besitzanzeigende, Artikel. Mit „besitzanzeigend“ ist (wie auch in Ihrem Beispiel) oft nicht der materielle Besitz, sondern vielmehr die Zugehörigkeit einer Sache/Person zu einer anderen Sache/Person gemeint.
(1) [Mein Freund] geht gerne in das Hallenbad [unserer Stadt].
Eine Person, die diesen Satz äußert, möchte hiermit weder ausdrücken, dass sie Eigentumsrechte an ihrem Freund noch an der Stadt, in der sie wohnt, besitzt.
Inhaltlich bewirkt der possessive Artikel
mein oder auch
unser eine nähere Beschreibung des Freundes oder auch der Stadt. Die Verwechslungsgefahr wird dadurch eingedämmt, indem man der Person/Sache dieses Merkmal zuschreibt. Man spricht hier von
possessiven Attributen.
(2) Wem gehört das Buch? – Das ist [mein Buch]!
(2’) Wem gehört das Buch? – Das ist [meins]!
Schaut man sich Beispiel (2) und die abgeänderte Variante hiervon an, so könnte man leicht zu dem Entschluss kommen, dass beide Sätze gleich sind. Jedoch unterscheiden sich die Sätze in grammatischer Hinsicht:
Wenn Sie Beispiel (1) und (2) miteinander vergleichen, dürften Sie zu der Annahme kommen, dass diese beiden Sätze (
Das ist mein Buch! und
Mein Freund geht gerne…) sich tatsächlich ähneln, denn beide enthalten einen possessiven Artikel. Doch was ist überhaupt für einen
Artikel wesentlich? Ein Artikel zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er in Verbindung mit einem Nomen gebraucht wird. Artikel und Nomen stimmen in den Kategorien Kasus, Numerus und Genus überein (
KNG-Kongruenz). Der Artikel selbst trägt keine Bedeutung, er kann dem Nomen allenfalls Eigenschaften zuweisen (im Falle eines possessiven Artikels) oder Merkmale wie Definitheit zuweisen (
der Mann verweist darauf, dass ein bestimmter Mann gemeint ist, der dem Hörer bekannt ist). Und genau das ist der Punkt: In (2’) wird anstatt eines possessiven Artikels ein
Possessivpronomen verwendet. Pronomen stehen anstelle eines Nomens, während Artikel, wie bereits erläutert, eines Nomens bedürfen.
Bevor wir auf Ihr Beispiel zu sprechen kommen, erläutern wir noch kurz Ihren Vorschlag bezüglich
dessen, deren, derer.
(3) Ich gehe morgen zu meinen Großeltern. [Ihr Garten] ist echt wunderschön!
(3’) Ich gehe morgen zu meinen Großeltern. [Deren Garten] ist echt wunderschön!
Beide Satzvarianten gleichen sich zunächst darin, dass sowohl in (3) als auch in (3’) bei der Verwendung von
ihr bzw.
deren eine Wortgruppe vorangehen muss, auf die hiermit verwiesen wird (
meine Großeltern). Der, wie vorhin schon thematisierte, possessive Artikel in (3) lässt sich von dem
Personalpronomen (
ich, du, er/sie/es,…)
sie ableiten, wie die folgende Reformulierung mit
sie haben zeigt:
(3’’) Ich gehe morgen zu meinen Großeltern. Sie haben einen wunderschönen Garten!
Auf den ersten Blick scheint sich auch wieder die Variante mit
deren gleich zu verhalten. Beispiele (4) und (5) verdeutlichen jedoch den Unterschied:
(4) Deren Enkelkinder (= Nominativ) sind so brav!
(4’) Ihre Enkelkinder sind so brav!
(5) Deren Enkelkindern (= Dativ) schaue ich gerne beim Spielen zu!
(5’) Ihren Enkelkindern schaue ich gerne beim Spielen zu!
Während der possessive Artikel
ihr mit dem Nomen
Enkelkinder kongruiert, ist dies bei
deren nicht der Fall. Das liegt daran, dass
deren ein Pronomen im Genitiv und kein Artikel ist.
Deren findet hier ausschließlich attributive Verwendung.
Mit diesen Vorinformationen können wir uns nun an Ihren Beispielsatz begeben:
(6) Die Schmach nahm ihren Lauf.
(6’) Das Schicksal nahm seinen Lauf.
Hier sehen Sie noch einmal Ihr Ausgangsbeispiel und den Begründungsansatz, weswegen es eventuell auch
seinen Lauf heißen könnte, illustriert. Eine Überlegung von Ihnen war, dass es sich um eine Redewendung handelt. Diese Annahme kann zunächst bestätigt werden. Auf der funktionalen Ebene würde man in Bezug auf
nahm seinen/ihren Lauf von einem
idiomatischen Prädikat sprechen.
Für Verwirrung könnte unterdessen die zuvor angesprochene Übereinstimmung des Artikels mit dem Nomen in den Kategorien Kasus, Numerus und Genus sorgen.
(6) Die Schmach nahm ihren (Akkusativ, Singular, maskulin) Lauf.
(6’’) Die Schmach nahm ihre (Akkusativ, Singular, feminin) Wendung.
Der possessive Artikel trägt in (6) das Merkmal
maskulin, eben weil er in dieser Kategorie mit dem Nomen
Lauf kongruiert, bezieht sich aber auf das Subjekt
die Schmach. Das hängt mit der der Ableitung von dem Personalpronomen
sie zusammen.
(6) Die Schmach [sie] nahm ihren [abgeleitet von sie, 3. Person Singular feminin] Lauf.
(6’’’) Der Zufall [er] nahm seinen [abgeleitet von er, 3. Person Singular maskulin] Lauf.
(6’’’’) Das Unglück [es] nahm seinen [abgeleitet von es, 3. Person Singular maskulin] Lauf.
Wie Sie sehen können, lautet die richtige Form demnach
die Schmach nahm ihren Lauf. Sie könnten den possessiven Artikel
ihren jedoch auch durch das attributiv verwendete Pronomen
deren austauschen. Da es sich um ein idiomatisches Prädikat handelt und die Redewendung
seinen/ihren Lauf nehmen bereits etabliert ist, wäre hiervon aber eher abzuraten.