In Ihrer Frage thematisieren Sie, wie Verbindungen von Partizipien beziehungsweise Adjektiven zustande kommen. Sie haben in Ihren Beispielen die beiden Partizipien „gestresst“ und „getrennt“ sowie das Adjektiv „gerecht“ einem Verb vorangestellt. Da alle von Ihnen genannten Beispiele mit ge- beginnen, scheint ein formaler Zusammenhang zu bestehen. Im Folgenden sollen Ihre Beispiele zunächst getrennt erläutert werden, um auf die unterschiedlichen Eigenschaften von „gestresst“, „getrennt“ und „gerecht“ eingehen zu können.
1. gerecht aufteilen
Wie bereits angesprochen wurde, handelt es sich bei „gerecht“ laut dem Duden-Universalwörterbuch um ein
Adjektiv. Eine Verbindung zu dem Verb „richten“ und dem Partizip II dieses Verbs „gerichtet“ erscheint zwar naheliegend, jedoch handelt es sich bei „gerecht“ nicht um ein Partizip II. Ihre Ausgangsproblematik bestand in der Frage, warum Adjektive vor Verben stehen können. Hierzu ist festzuhalten, dass Verben laut §478 der Dudengrammatik durch ein adverbiales Adjektiv, also ein Adjektiv, welches wie ein Adverb zur näheren Beschreibung eines Verbs gebraucht wird, semantisch aufgeladen werden:
Ich renne.
Ich renne schnell.
Ich renne sehr schnell.
Ich teile den Kuchen gerecht auf.
Ich teile den Kuchen fair auf.
Ich teile den Kuchen gleichmäßig auf.
Folglich handelt es sich bei „gerecht“ um ein
Adverbial zum Vollverb „aufteilen“.
2. getrennt leben
In diesem Beispiel liegt mit „getrennt“ das Partizip II des Verbs „trennen“ vor. Das Partizip II kann auch
adjektivisch verwendet werden, wie die nachstehenden Beispiele illustrieren:
Sie leben in getrennten Wohnungen.
Sie leben schön.
Sie leben einfach.
Aufgrund dieser Verwendungsweise stellt „getrennt“ das
Adverbial zum Vollberb „leben“ dar.
3. gestresst sein
Sie haben hier problematisiert, welches Hilfsverb benutzt werden muss, um das Perfekt von „stressen“ zu bilden. Wie Sie bereits richtig erläutert haben, ist zur Perfektbildung das Partizip II des Vollverbs nötig. In diesem Fall handelt es sich um die Form „gestresst“. Nun ist die Frage, welches Hilfsverb zur Perfektbildung nötig ist. Sie haben als Hilfsverb das Verb „haben“ vorgeschlagen. Das Duden-Universalwörterbuch (DUW) belegt, dass „stressen“ das Perfekt mit „haben“ bildet:
Er hat sie mit seinen Problemen gestresst. (Beispiel aus DUW)
Die Konstruktion „gestresst sein“ ist von dem Perfekt zu unterscheiden. Hier wird das Partizip II wie ein Adjektiv verwendet:
a) Wir sind gestresst - zumindest tun wir im Alltag so. (Deutsches Referenzkorpus)
Ersetzt man „gestresst“ durch ein Adjektiv wie beispielsweise „müde“ oder „gut“, so wird die adjektivische Verwendungsweise deutlich:
b) Wir sind müde - zumindest tun wir im Alltag so.
c) Wir sind gut - zumindest tun wir im Alltag so
Sie haben des Weiteren nach der Funktion des Partizips II in einer Konstruktion wie in Beispiel a) gefragt. Der Satz „Wir sind gestresst“ besitzt als Prädikat das Verb „sein“. Dieses bedeutungsschwache Verb dient zur Verbindung von dem Subjekt des Satzes (wir) mit einem sogenannten
Prädikativ. Das Verb „sein“ nennt man deshalb auch
Kopulaverb. Das Prädikativ kann mit Adjektiven oder Substantiven gebildet werden:
Anna ist Lehrerin.
Anna ist müde.
Anna ist gestresst.
Somit kann auch das Partizip II „gestresst“ als Prädikativ auftreten.
Eine zweite Lesart wäre, dass es sich bei „gestresst sein“ um das
Zustandspassiv zu „stressen“ handelt. Das Zustandspassiv wird mit dem Hilfsverb „sein“ gebildet und unterscheidet sich dadurch vom Vorgangspassiv, welches mit „werden“ gebildet wird:
Die Tür ist geöffnet. (Zustand)
Die Tür wird geöffnet. (Vorgang)
Sie sind gestresst. (Zustand)
Sie werden gestresst. (Vorgang)
Fasst man Ihr Beispiel als Zustandspassiv auf, so handelt es sich bei „gestresst“ nicht um ein Prädikativ. Hier dient das Partizip II der Realisierung des Zustandspassivs.
Die Abgrenzung verschiedener grammatischer Einordnungen von sein + Partizip II stellt für die Grammatik eine große Herausforderung dar. Im vorliegenden Fall ist möglicherweise die Adjektivlesart naheliegender.