Im Folgenden soll nun die Entwicklung des Verbs nachgezeichnet werden, wobei mit der Verwendung von
wohl sein im Gegenwartsdeutschen begonnen wird. Unter dem Lemma „wohl“ steht im Deutschen Universalwörterbuch unter anderem die folgende Verwendung:
Beispiel
(1) „[S]ie haben es
sich wohl sein
(gut gehen) lassen“ (DUW: 2023).
Dies zeigt zwei Dinge. Erstens wird deutlich, dass
es sich wohl sein lassen im heutigen Sprachgebrauch rein
reflexiv verwendet wird, und zweitens, dass es synonym (=gleichbedeutend) zu
es sich gut gehen lassen ist. Letzteres ist insofern interessant, als
es sich gut gehen lassen eine wesentlich geläufigere Wendung ist, die sich besser im Archiv der geschriebenen Sprache in COSMAS II, einem digitalen Korpus (=Belegsammlung), suchen lässt. Bei einer Suchanfrage, in der die Stelle, die durch
sich besetzt wird, offen gelassen wurde, waren alle 182 Treffer dennoch reflexiv, sodass im Grunde ausgeschlossen werden kann, dass gegenwärtig noch eine nicht-reflexive Variante existiert.
Für die weitere Erklärung, weswegen die besagte Wendung bei Nietzsche ohne Reflexivpronomen auftritt, ist zunächst der Unterschied zwischen
reflexiven Verben und
reflexiv gebrauchten Verben zu erläutern. Bei beiden Arten ist die Objektleerstelle, reflexiviert, was bedeutet, dass sich das Objekt hinsichtlich grammatischer Person und Numerus kongruent zum Subjekt verhält, da es sich bei Objekt und Subjekt um dieselbe Person handelt. So stehen in
ich wasche mich Subjekt und Objekt beide in der ersten Person Singular. Der Unterschied zwischen beiden Arten von reflexiven Verben wird durch die
Frageprobe erkennbar, da sich das Objekt bei echt reflexiven Verben nicht erfragen lässt, was bei reflexiv gebrauchten Verben keine Schwierigkeit darstellt (vgl. Duden 4: 399 f.; Randnummer 547 f. & Duden 4: 402 f.; Randnummer 552).
Beispiel
(2) Die Frau
setzte sich. (echt reflexiv)
(3) *Wen setzte die Frau?
(4) Die Frau
erschoss sich. (reflexiv gebraucht)
(5) Wen erschoss die Frau?
Mit dem Wissen um diese Arten von reflexiven Verben kann man nun schlussfolgern, dass
es sich wohl sein lassen für Nietzsche kein echt reflexives Verb war, sondern nur reflexiv gebraucht wurde. Entsprechend konnte er die Leerstelle, die im heutigen Sprachgebrauch nur mit einem reflexiven Ausdruck wie
sich belegt wird, ebenso mit einem anderen
Dativobjekt besetzen. Besonders bei reflexiv gebrauchten Verben mit Akkusativobjekt lässt sich dies gut zeigen.
Beispiel
(6) Er kämmt
sich.
(7) Er kämmt
den Kunden.
Belege dafür, dass diese Verwendung auch bei
es sich wohl sein lassen nicht unüblich war, findet man im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm unter dem Lemma
wohl im Abschnitt IA5b (
http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle...&lemid=GW24777).
Beispiel
(8) er laszt
ihm wol seyn il est à son aise, otio perfruitur
Wiederhold (1669) 424b
(9) möchten sie
ihnen doch ein wenig wohl seyn lassen
Lohenstein Arminius (1689f.) 1, 585b
Beide Beispiele stammen zugegebenermaßen aus einer Zeit, die deutlich vor Nietzsche liegt. Dennoch weisen sie nach, dass die untersuchte Wendung nicht immer rein reflexiv war. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass sich Sprachwandel grundsätzlich sehr langsam und mit regionalen Unterschieden vollzieht, sodass es möglich ist, dass Nietzsches Sprachgebrauch vielleicht schon zu seiner Zeit selten war, aber noch der Norm entsprach. Weiterhin lässt sich noch mutmaßen, dass Nietzsche als Altphilologe möglicherweise auch Sprachpfleger war und daher bewusst auf ältere Formen zurückgriff. Hierbei jedoch handelt es sich nur um Spekulation.
Fazit: Mithilfe des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm konnte belegt werden, dass die idiomatische Verbindung
es sich wohl sein lassen sich bis ins späte 17. Jh. und vielleicht darüber hinaus als
reflexiv gebrauchtes Verb vorkam und somit erst später rein reflexiv wurde. Das Zitat „
Heil, Heil jenem Walfische, wenn er also es seinem Gaste wohlsein liess!“, bei dem die Leerstelle des Dativobjekts durch
seinem Gaste besetzt wird, entspricht dieser älteren Verwendungsweise.