Ihre Frage betrifft den
e-Einschub bei starken Verben. Bei den Endungen –t und –st schiebt sich bei schwachen Verben in der Regel ein Schwa-Laut (
e) ein, damit die Flexionsendung über die Silbenstruktur klar als eigenständig erkennbar ist und die Aussprache erleichtert wird:
er/sie/es rettet statt rettt
du rettest statt rettst
Das Verb
verlassen gehört zu den starken Verben, da es im Präteritum den Stammvokal nicht beibehält:
ich verlasse
ich verließ
Der Duden Band 4 „Die Grammatik“ formuliert zu der Flexion starker Verben hinsichtlich der Bildung von Formen des Präteritums die Regel, dass der e-Einschub den Zusammenfall der 2. Person Singular und der 2. Person Plural verhindert:
du lasest (2. Person Singular) vs. ihr last (2. Person Plural)
In der 2. Person Singular ist der e-Einschub obligatorisch, damit diese Formen im Gesprochenen nicht identisch sind. Der e-Einschub in der 2. Person Plural wirke hingegen meist feierlich-veraltet:
ihr laset
Dies trifft nicht auf alle starken Verben für die 2. Person Singular zu, sondern ist spezifisch für jene, die auf –s, -ss oder –ß enden:
du trinkst (2. Person Singular) vs. ihr trinkt (2. Person Plural) – kein e-Einschub notwendig!
du trankst (2. Person Plural) vs. ihr trankt (2. Person Plural) – kein e-Einschub notwendig!
Bei dem Verb
verlassen treffen diese Aspekte jedoch zu:
du verließest (2. Person Singular) vs. ihr verließ(e)t (2. Person Plural)
Dabei erfüllt der e-Einschub den Zweck, die phonetisch schwer zu realisierende Form
verließst (in Abgrenzung zu
verließt) zu vermeiden. Zu beachten ist allerdings, dass so die Formen mit denen des Konjunktivs zusammenfallen:
du verließest (Indikativ) vs. du verließest (Konjunktiv I)
So lässt sich vermutlich die Varianz erklären, dass Sprecher ebenso auf die e-Tilgung bei starken Verben verzichten, um eben diesen Zusammenfall mit dem Konjunktiv I zu vermeiden. Um diese Varianz näher zu beleuchten, möchten wir im folgenden Schritt einen Blick auf den Sprachgebrauch werfen.
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