Die zweite Form ist auf jeden Fall korrekt, denke ich. Kann man die erste Form trotzdem anwenden?
Die zweite Form ist auf jeden Fall korrekt, denke ich. Kann man die erste Form trotzdem anwenden?
Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.
Sprachgebrauch
Die Sprachgemeinschaft, also die Gesamtheit aller Deutschsprechenden, ist sich im Hinblick auf Ihre Frage offenbar auch nicht ganz einig, denn im tatsächlichen Sprachgebrauch kommen beide Varianten vor. Dabei überwiegen allerdings Konstruktionen, die der von ihnen genannten Variante für alle Behinderten entsprechen. Sucht man bei Google beispielsweise nach „für alle Verliebten“ (die Konstruktion ist grammatisch mit Ihrer vergleichbar, da Behinderte wie auch Verliebte ein substantiviertes Partizip ist), so erhält man derzeit ca. 617.000 Treffer (= 92 %). Aber auch „für alle Verliebte“ ist immerhin 50.900-mal bei Google zu finden (= 8 %).
In COSMAS II, der digitalen Zeitungstextsammlung des Instituts für Deutsche Sprache, ist der Anteil von „für alle Verliebte“ sogar noch höher, jedoch ist die zugrunde liegende Datenmenge dort weitaus geringer. „Für alle Verliebte“ ist in COSMAS II viermal zu finden (= 16 %), „für alle Verliebten“ überwiegt aber auch hier deutlich mit 21 Treffern (= 84 %).
Beispiel
Zeit zu zweit, Romantik im Hotelzimmer - das Vier-Sterne-Hotel Winzer im österreichischen Salzkammergut bietet für alle Verliebten und für Paare, die endlich mal wieder viel Zeit zusammen verbringen möchten, die neue "Paar-Wellness" an. (Hamburger Morgenpost, 23.06.2007)
Außerdem verlosen wir noch ein Highlight für alle Verliebte: Gewinnen Sie heute mit der MOPO eine Hochzeit auf dem Leuchtturm auf Pellworm - Infos dazu auf der letzten Seite dieser Beilage. (Hamburger Morgenpost, 21.04.2007)
Sprachsystem
Der Fall ist also durchaus nicht ganz so klar, wie es die Dudengrammatik darstellt: Laut Duden heißt es nur für alle Behinderten (vgl. Dudengrammatik, 8. Aufl., § 1526). Hierbei wird alle als Artikelwort eingestuft, was wiederum bestimmte Auswirkungen auf das folgende substantivierte Partizip hat (Behinderte(n)). Ein Partizip ist ein Wort, das von einem Verb abstammt (in diesem Fall behindern), das sich jedoch wie ein Adjektiv verhält. Daher verfügt ein Partizip im Deutschen genau wie ein Adjektiv über zwei Arten der Flexion: die „starke“ und die „schwache“ Flexion (Deklination, Beugung). Welche Art der Flexion im konkreten Fall zum Einsatz kommt, entscheidet die grammatische Umgebung des Adjektivs bzw. des Partizips. Es gilt: Steht ein Artikelwort mit deutlicher Flexionsendung vor dem Adjektiv, dann wird das Adjektiv schwach flektiert, ansonsten stark. Die folgende Tabelle zeigt beide Arten der Flexion im Vergleich.
starke Flexion schwache Flexion Nominativ Behinderte (die) Behinderten Genitiv Behinderter (der) Behinderten Dativ Behinderten (den) Behinderten Akkusativ (für) Behinderte (für die) Behinderten
Steht vor dem Adjektiv oder Partizip ein Artikelwort wie z. B. der bestimmte Artikel (der, die, das), so erhält es im Plural durchgehend die schwache Endung –en. Betrachtet man alle nun ebenfalls als ein solches Artikelwort, dann folgt entsprechend der obigen Tabelle auch auf alle das Adjektiv oder Partizip mit schwacher Flexionsendung (für alle Behinderten).
Steht vor dem Adjektiv oder Partizip aber kein Artikel, wird stark flektiert. Noch etwas komplizierter ist es, wenn vor dem Adjektiv/Partizip kein Artikel, sondern lediglich ein anderes Adjektiv steht, z. B. zahlreich. In diesem Fall erhält das erste Adjektiv die starke Endung, da es sozusagen die Funktion eines Artikels übernimmt. Das zweite Adjektiv wird dann aber trotzdem nicht schwach flektiert wie nach einem Artikelwort, sondern genauso wie das erste Adjektiv, nämlich stark (man spricht hierbei auch von „Parallelflexion“). Demnach heißt es für zahlreiche Behinderte mit parallel starken Endungen. Eine Erklärung für Funde wie für alle Behinderte oder für alle Verliebte im tatsächlichen Sprachgebrauch könnte also sein, dass die Sprecher/Schreiber das Wort alle nicht als vollwertiges Artikelwort, sondern eher als Adjektiv betrachten, das Parallelflexion erfordert.
Fazit: Da die Mehrheit der Sprecher und Schreiber nach alle die schwache Flexion von Adjektiv oder Partizip vorzieht, sind Sie mit der Variante für alle Behinderten in jedem Fall auf der sicheren Seite. Für die Variante für alle Behinderte sind zwar ebenfalls grammatische Erklärungen sowie Belege im tatsächlichen Sprachgebrauch zu finden, aber es kann trotzdem sein, dass Ihr jeweiliger Gesprächspartner diese Konstruktion so nicht anerkennt und Sie gegebenenfalls sogar zu korrigieren versucht.
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