"neutralisierte" Kasus

[Michelvilvoorde]

Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
Selbststudium. Gerhard Helbig: Deutsche Grammatik, Grundfragen und Abriss (1999 - Iudicium-Verl.)

Seite 66 lese ich:
"Diese Oberflächenkasus sind nur Kasusformen, hinter denen sich unterschiedliche semantische Kasus verbergen können (die in ihnen neutralisiert sein können).
der Besuch des Vaters (Genitiv als Attribut)
<- Der Vater besucht X.
<- X besucht den Vater.

Meine Frage:
Was ist gerade mit dem Terminus "neutralisiert" gemeint?
"Neutrum" bedeutet "keines van beiden". Soll ich daraus verstehen, dass in "der Besuch des Vaters" ohne Kontext keine von beiden semantischen Kasus (Der Vater besucht X./X besucht den Vater.) bestimmt werden kann?

[Mathilde Hennig]

Da metasprachliche Fragestellungen keine den Sprachgebrauch betreffenden grammatischen Zweifelsfälle sind, wird hier auf unser auf Zweifelsfälle ausgerichtetes Antwortschema mit den Icons verzichtet. Wir möchten Sie dennoch bitten, unseren kurzen Fragebogen zur Bewertung unserer Antwort auszufüllen.

Lieber Herr Soumillion,

Sie haben das genau richtig verstanden. Der Terminus Kasus hat in der Grammatik zwei Verwendungsdomänen: Zum einen können die morphologischen Kasus (hier bei Helbig: Oberflächenkasus) gemeint sein (Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv), zum anderen die sogenannten semantischen Kasus, die man auch semantische Rollen nennt, wie bspw. Agens (= Handelnder) oder Patiens (= von der Handlung betroffenes Element).
Bei Helbig geht es hier darum, dass aus den morphologischen Kasus noch nicht automatisch auf einen semantischen Kasus geschlossen werden kann, es gibt also keine 1:1-Entsprechung.
In

Beispiel

Der Vater besucht X

ist X Patiens (Objekt)
In

Beispiel

X besucht den Vater

ist X Agens (Subjekt).
Der Genitiv

Beispiel

Der Besuch des Vaters

ist doppeldeutig, d.h., es kann sowohl eine Agens- als auch eine Patienslesart gemeint sein:

Beispiel

Der Besuch des Vaters erfreute die Kinder (= Agens)
Der Besuch des Vaters aß den ganzen Kuchen auf (= Patiens)

Die semantischen Kasus sind hier also "neutralisiert", d.h. nicht an der Oberflächenform erkennbar. Der Genitiv verhält sich folglich neutral in Bezug auf die semantischen Kasus.