Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.
Sprachsystem
Ihre Frage betrifft die Deklination von Nomen und Adjektiven. Grundsätzlich werden substantivierte Adjektive wie Adjektive dekliniert (Beispiel 1).
Beispiel
Beispiel 1:
Ein Glücklicher – ein glücklicher Mensch
Einige substantivierte Adjektive schwanken zwischen adjektivischer und substantivischer Flexion.
Die betrifft auch das Nomen Gerade (Beispiel 2).
Beispiel
Beispiel 2:
die Gerade, der Geraden (entsprechend zu: der geraden Linie), die Geraden (entsprechend zu: die geraden Linien); aber: zwei Geraden oder zwei Gerade (entsprechend zu: zwei gerade Linien)
Laut Duden (Band 9) gilt: Mit Artikel wird Gerade nur schwach (wie ein Adjektiv) flektiert (Genitiv: der Geraden, Plural: die Geraden). Nach dieser Regel heißt es in Ihrem Beispiel „ die Länge der Geraden“, weil Gerade hier mit dem Artikel der wie ein Adjektiv flektiert wird (vgl. „die Länge der geraden Linie“). Ohne Artikel (in Verbindung mit einer Kardinalzahl z. B.) kommt laut Duden (Band 9) im Plural auch starke Flexion vor: zwei Geraden/Gerade.
Es ist jedoch fraglich, ob die Verwendung von Gerade/n so einfach zu bestimmen ist, wie es die Darstellung im Duden (Band 9) vermuten lässt. Vielmehr könnte es so sein, dass die Flexion als Adjektiv (Geraden) und als Nomen (Gerade) miteinander konkurriert. In Ihrem Beispiel könnte auch die Doppeldeutigkeit der Form Geraden (Länge einer oder mehrerer Gerade/n?) Einfluss auf die Wahl der Form nehmen. Will man etwa die Lesart absichern, dass nur die Länge einer Gerade(n) bestimmt werden soll, bietet sich Gerade an, da hier die Doppeldeutigkeit ausgeschlossen wird.
Sprachgebrauch
Entscheidend könnte auch der Sprachgebrauch sein. Im Kernkorpus des DWDS können in wissenschaftlichen Texten 41 Belege für „der Geraden“ gefunden werden und kein Beleg für „der Gerade“. Auch in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ und in „DIE ZEIT online“ besteht eine entsprechende Verteilung (61 „der Geraden“; 1 „der Gerade“). Für die Verwendung mit einer Kardinalzahl können in den wissenschaftlichen Texten des DWDS-Kernkorpus immerhin 6 Belege gefunden werden. Die Variante "Kardinalzahl+Geraden" kommt hier nur einmal vor. Diese Belege zum Sprachgebrauch sprechen also für die im Duden (Band 9) aufgestellte Regel.
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