Sprachsystem
Die Beantwortung Ihrer Frage ist Teil eines Forschungsprojekts zur Verständlichkeit von grammatischen Erklärungen. Wir bitten Sie deshalb darum, im Anschluss an die Lektüre der Antwort die Tools zur Bewertung (Fragebogen, Sternchenfunktion, Antwortoption) zu nutzen.
In der Tat stellt der von Ihnen zitierte Satz (genauer: die Nominalgruppe meines Herrn Schwagers seine silberne Dose) eine seltsame Konstruktion dar. Es bietet sich an, diese Konstruktion im Kontext der von Ihnen genannten Alternativen zu betrachten. Demnach gäbe es:
(1) meines Herrn Schwagers silberne Dose
(2) meines Herrn Schwagers seine silberne Dose
(3) meinem Herrn Schwager seine silberne Dose
Für alle drei gilt aus semantischer Sicht, dass sie ein Besitzverhältnis zum Ausdruck bringen. Solche Konstruktionen nennt man possessive Konstruktionen. Ein possessives Verhältnis besteht semantisch immer aus zwei Bestandteilen: einem so genannten Possessor (dem Besitzer, in Ihrem Beispiel: mein Herr Schwager, in (2) und (3) zusammen mit sein) und einem Possessum (dem Gegenstand, den der Possessor besitzt, in Ihrem Beispiel: Dose). Unter grammatischem Aspekt ist das Possessum (Dose) der Kern der Nominalgruppe und der Possessor (mein Herr Schwager) ein Attribut zum Kern (Es gibt noch ein Adjektivattribut, nämlich silbern, das wir für die Analyse hier außer Acht lassen können). Die formale Realisierung possessiver Konstruktionen sieht standardsprachlich wie folgt aus:
(4) Die silberne Dose meines Herrn Schwagers
(5) Die silberne Dose von meinem Herrn Schwager
Vergleicht man (4)-(5) mit (1)-(2)-(3), so kann man drei wichtige Unterschiede festhalten: Erstens steht der Possessor in Ihren Beispielen (1) bis (3) jeweils vor dem Possessum, während in (4) und (5) die umgekehrte Reihenfolge zu beobachten ist. Für den Genitiv gilt dabei standardsprachlich, dass er vorangestellt zwar möglich ist, in dieser Position jedoch grundsätzlich nur dann auftaucht, wenn der Possessor ein einfacher, artikelloser Eigenname ist (Bsp.: Peters Dose). Zweitens ist der reine Dativ (s. meinem Herrn Schwager in (3)) in Nominalgruppen standardsprachlich nicht möglich, man findet entweder den Genitiv (s. (4)) oder eine von-Phrase (in der der Dativ von der Präposition von gefordert wird, daran also gebunden ist, s. (5)). Drittens fehlt in (4) und (5) der Possessivartikel sein oder umgekehrt: (2) und (3) sind durch sein angereichert. Geht man von diesen Merkmalen aus, so lässt sich sagen:
(1) ist seltsam, weil der Genitiv vorangestellt ist, obwohl der Possessor kein Eigenname (und noch dazu komplex) ist.
(2) ist seltsam, weil der Genitiv vorangestellt ist, obwohl der Possessor kein Eigenname (und noch dazu komplex) ist, und weil der Possessor zusätzlich in sein erscheint, also doppelt realisiert ist.
(3) ist seltsam, weil der Possessor durch den reinen, d.h. ohne eine Präposition stehenden, Dativ kodiert wird und weil der Possessor zusätzlich in sein erscheint, also doppelt realisiert ist.
Aus grammatischer Sicht ist vor allem die Dopplung der Possessors (meines/meinem Herrn Schwager + sein) interessant, weil die Stellungsregularitäten in Nominalgruppen ziemlich strikt sind. Demnach stehen vor dem Kern: Adjektivattribute, Artikel und genitivische Eigennamen, vgl.:
(6) Die (silberne) Dose
(7) Peters (silberne) Dose
(8) Seine (silberne) Dose
(9) *Die Peters Dose/Peters die Dose/Die seine Dose/Seine die Dose
Sowohl Die als auch Peters und Seine besetzen die Artikelstelle. Das Sternchen in (9) signalisiert, dass die dort genannten Strukturen nicht akzeptabel sind, eine doppelte Besetzung der Artikelstelle im Standarddeutschen also grundsätzlich nicht möglich ist. Die in (2) und (3) genannten Strukturen stellen aber gerade eine solche Doppelbesetzung dar. (2) ist dabei im heutigen Deutsch in jeder Hinsicht eine Randerscheinung, (3) jedoch in (vielen) Mundarten sehr verbreitet (s. dazu weiter unten), daher befassen sich Grammatiker vor allem mit (3) und nennen es adnominalen possessiven Dativ. Die Beliebtheit dieser Konstruktion könnte man darauf zurückführen, dass sie dem vorangestellten (standardsprachlichen) Eigennamengenitiv (s. (7)) ähnlich ist: In beiden kommen in aller Regel belebte Possessoren (vor allem Personenbezeichnungen) vor und sie erlauben eine frühe Nennung der Person, auf die das Kernsubstantiv (hier: Dose) possessiv bezogen werden soll. Was die Doppelbesetzung des Possessors angeht, so geht aus grammatischen Analysen hervor (und das gilt sowohl für (2) als auch für (3)), dass sein nicht mehr wie in (8) Possessivartikel ist, sondern ein semantisch leer gewordenes Funktionswort, das sozusagen zwischen dem Possessor (meines/meinem Herrn Schwager) und dem Possessum (Dose) grammatisch vermittelt. Dass es ein anderes sein ist, erkennt man auch daran, dass es nicht mehr im Kontext seiner Partner, mein und dein, gesehen werden, sprich durch diese nicht ersetzt werden kann. Das sein von (2) und (3) gibt es also – im Gegensatz zu sein in (8) – nur in der drittpersonigen Form.
Sprachvariation
Aus variationslinguistischer Sicht lässt sich sagen, dass (3) in Mundarten verbreitet ist, und zwar nicht nur im alemannischen Raum, sondern bspw. auch im nordbairischen. Im gesamten nördlichen Teil der Schweiz ist sie die präferierte Variante gegenüber allen anderen Varianten. (1) ist im südlichen Gebiet der Schweiz (höchstalemannische Mundarten) beliebt, und zwar eben nicht nur in Strukturen mit Eigennamen (was ja auch für das Standarddeutsche gilt), sondern auch in solchen mit Gattungsnamen. (2), Ihr Hauptbeispiel, gilt heute jedoch selbst in der Schweiz als marginal und wird nur noch vereinzelnt belegt.
Sprachgeschichte
Den vorangestellten Genitiv mit sein, also (2), gibt es etwa seit dem 13. Jahrhundert, seine Häufigkeit nimmt im 15. Jh. zu, seine Blütezeit ist auf das 16.-17. Jh. zu datieren. In dieser Zeit wird diese Struktur auch schriftsprachlich akzeptiert. Was (3), den dativischen Fall, angeht, so kann man sagen, dass er seit dem 12. Jh. belegt ist, und zwar in volkstümlichen Texten. Seine Erfolgsgeschichte beginnt gerade zu der Zeit, nach der der Typus in (2) allmählich unterging. Es ist also wohl so, wie Sie selbst formulieren: (2) ist ein Opfer des Dranges zum Dativ. Auch Ihre Annahme, dass Hebel den Dativ durch den Genitiv, also (3) durch (2), ersetzt haben könnte, könnte stimmen: In der Fachliteratur findet man auch den Hinweis auf einen möglichen Kompromiss zwischen Mundart (vorangestellter Possessor im Dativ) und Literatursprache (Voranstellung: ja, Dativ: nein, sondern Genitiv).
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