systemlinguistisch-standardsprachliche Perspektive:
Zur Beantwortung Ihrer Frage aus
systemlinguistisch-standardsprachlicher Perspektive soll einerseits die
Verbform „brauch“ und andererseits die Frage des
Artikels thematisiert werden.
„Brauch“ ist in dem von Ihnen beschriebenen Beispielsatz
eine Verkürzung der 1. Person Singular Präsens Aktiv Indikativ von „brauchen“ (also komplettiert „brauche“). Dies stellt grammatisch kein Problem dar, insbesondere da durch die Realisierung des Personalpronomens „ich“ die grammatische Referenz eindeutig erkennbar ist. Die Duden-Grammatik schreibt diesbezüglich: „In spontaner gesprochener Sprache wird das auslautende Schwa der 1. Pers. Sg. Präs. regelmäßig ausgelassen“ (Duden-Grammatik, §622)
[
Exkurs: Schwa-Laut
Der Schwa-Laut bezeichnet im Deutschen u.a. das
-e im Wortauslaut und in Vorsilben be- und ge-. Das „e“ wird hier kurz und unbetont gesprochen.
Beispiel
Rüb
e (e kurz und unbetont)
lauf
e
g
efallen
b
eginnen
]
Nun stellt sich die Frage nach dem
Artikel. Deutsche Substantive bzw. Nominalgruppen werden in der Regel von einem Artikel begleitet. Hierzu wird nach Helbig-Buscha auch der sog.
Nullartikel gezählt, bei dem der Artikel „leer“ ist, also nicht angezeigt wird.
Beispiel
Ich warte auf Lisa. (Nullartikel; d.h. kein Artikel)
Ich trinke gerne Bier. (Nullartikel; d.h. kein Artikel)
Artikelwörter (auch Nullartikel) setzen das von ihnen begleitete Substantiv bzw. die von ihnen begleitete Nominalgruppe in einen Kontext seiner außersprachlichen Realität. In Ihrem Beispiel ist ein Nullartikel realisiert.
Beispiel
Brauch ich Jacke?
Andere Optionen wären der bestimmte (definite) oder der unbestimmte (indefinite) Artikel:
Beispiel
Brauche ich
die Jacke? (definiter Artikel)
Brauche ich
eine Jacke? (indefiniter Artikel)
Der Nullartikel wird im Singular beispielsweise bei Eigennamen
oder bei Stoffbezeichnungen einer unbestimmten Menge des Stoffes im Singular verwendet.
Beispiel
Er trinkt gern Bier
Ich brauche Bier
Ich brauche Holz
Ich brauche Wasser
Er steht auch bei Bezeichnungen des Berufs, der Funktion, der Nationalität und der Weltanschauung in Konstruktionen vom Typ Nominativ + sein / werden + Nominativ (1,2) oder Nominativ + Verb + als + Nominativ (3,4).
Beispiel
(1) Er ist Bürgermeister.
(2) Er wird Arzt.
(3) Sie arbeitet als Kellnerin.
(4) Er handelt als Christ.
Da in Ihrem Beispiel „brauche“ weder mit Eigennamen noch mit unbestimmten Stoffbezeichnungen kombiniert wird noch eine oben beschriebene Konstruktion mit sein/ werden oder als dargestellt ist,
kommt der Nullartikel aus systemlinguistisch-standardsprachlicher Perspektive (!) für Ihr Beispiel nicht in Frage.
Welcher Artikel, ob z.B. ein bestimmter oder unbestimmter (oder possessiver Artikel), hinzugefügt wird, hängt von den kommunikativen Bedingungen ab.
Der
bestimmte Artikel (der, die, das) signalisiert
die Identifizierung (=die „Eindeutigmachung“) von Objekten der außersprachlichen Realität. Angenommen, die Mutter eines Kindes möchte, dass das Kind beim Rausgehen die rote Steppwinterjacke anzieht, das Kind möchte aber lieber die schwarze Fleecejacke tragen. Dann könnte das Kind (auf eine eindeutige, bereits identifizierte Jacke referierend) fragen:
Beispiel
Brauche ich die Jacke?
Möchte das Kind zum Spielen herausgehen, weiß aber nicht, wie es um die Temperaturen steht, könnte es generalisierend fragen:
Beispiel
Brauche ich eine Jacke?
Das Kind würde also auf ein
beliebiges Objekt der Klasse „Jacke“ Bezug nehmen. Der
unbestimmte Artikel drückt nämlich – wie sein Name schon sagt – die Indeterminiertheit der bezeichneten Objekte aus.
2.) variationslinguistische Perspektive
Aus variationslinguistischer Perspektive kann man Ihr Beispiel „Brauch ich Jacke?“ einer Varietät des Deutschen, dem
Kiez-Deutsch, zuordnen. Varietäten zeichnen sich durch ein
eigenes System aus. Für dieses System gelten
systemspezifische Korrektheitsbedingungen (d.h. die Bedingungen dafür, dass etwas als "korrekt" beurteilt wird). Dementsprechend können die Korrektheitsbedingungen der Standardsprache nicht mit den Korrektheitsbedingungen einer Varietät (hier des Kiez-Deutschen) gleichgesetzt werden. Was in Varietät A (z.B. Standardsprache) als inkorrekt gilt, kann in Varietät B (z.B. Kiez-Deutsch) als korrekt gelten. Aus dieser Perspektive können
Urteilsbegriffe bezüglich (In-)Korrektheit nur in Bezug auf einzelne Varietäten getroffen werden.
Die Variationslinguistik erzielt die deskriptive Analyse eines regelhaften und regelgeleiteten Sprachgebrauchs, der ungleich der Standardsprache ist, dessen Eigenschaften und Eigenheiten, Eigenlogik und Produktivität. Kiez-Deutsch erfüllt Kriterien für die Kategorisierung als „Varietät“, da sich eigene Konstruktionsmuster entwickelt haben. Wiese bezeichnet diese als
„ein komplexes und produktives grammatisches Phänomen“ (Wiese, Heike: „‘Ich mach dich Messer‘: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache (‚Kanak Sprak‘).
Weiterhin spricht für die Einordnung als Varietät, „dass Kiez-Sprache auch von Sprechern gesprochen wird, die daneben das Standarddeutsche beherrschen“ (vgl. Wiese, ebd.).
Ein zentrales Merkmal der Kiez-Sprache sind
Formen der morpho-syntaktischen Reduktion, zu denen auch der
Wegfall von Artikeln gehört.
Artikel und Pronomina entfallen vor allem dort, wo der Satz auch ohne diese verständlich bleibt. Im Folgenden sind die Auslassungen durch Ø markiert.
Beispiel
Ich sag: ’Hast du Ø Handy bei?’
Er hat schon Ø eigene Wohnung.
Ich mache Ø Ausbildung als Fachlagerist“
(vgl.
www.kiezdeutsch.de)
Der Wegfall von Artikeln ist prinzipiell auch im Standarddeutschen möglich, wenn die Verständlichkeit durch den Kontext ausreichend gesichert ist. Beispiele hierfür sind Hinweisschilder („Tür öffnet selbstständig!“) oder Überschriften von Pressetextsorten („Kunstsammlung eröffnet“). Diese grammatischen Reduktionen haben eine funktionale Logik: Sie dienen sowohl in der Standardsprache als auch im Kiez-Deutschen der Sprachökonomie und der schnelleren Informationsverarbeitung für den Leser.
Aus variationslinguistischer Perspektive würde man Ihr Beispiel
Beispiel
Brauch ich Jacke?
innerhalb der Varietät des Kiez-Deutschen verorten und
in Bezug auf die Korrektheitsbedingungen dieser spezifischen Varietät prüfen. Da der
Wegfall von Artikeln eine
Korrektheitsbedingung des Kiez-Deutschen darstellt, ist Ihr Beispielsatz in Bezug auf diese Varietät als
korrekt zu beurteilen.
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