-
Ist das Reflexivpronomen immer als Dativobjekt zu beurteilen?
Wie ich auf die Frage gestoßen bin:
Durch eine Grammatikklausur an meiner Schule.
Mit folgendem Nachschlagewerk versuchte ich dieser Frage auf den Grund zu gehen:
Weydt/Hentschel: Handbuch deutsche Grammatik
Wenn das Reflexivpronomen als Dativobjekt, also als Satzteil zu beurteilen ist, dann muss es verschiebbar sein.
In der Klausur sollten nun Satzteile verschoben werden. Bei dem Satz "Er kauft sich ein Buch" war eine der erwarteten Lösungen "Sich kauft er ein Buch". Schon diesen Satz halte ich für eher ungrammatisch, zumindest aber für stilistisch vage. Ein weiteres Beispiel war dann: "Sie schleicht sich an der Wand entlang." Eine der erwarteten Lösungen war: "Sich schleicht sie an der Wand entlang." Diesen Satz kann ich hinsichtlich Grammatik und Stil kaum akzeptieren. Was meinen Sie?
Bemerkungen:
1. Ich bin Fachbereichsleiter für das Fach Deutsch an einer Berliner Schule. Die Klausur hat eine Kollegin schreiben lassen, sie war empört über meine Skepsis hinsichtlich der Klausur.
2. Ich weiß, dass Sie nicht Fragen zum Stil beantworten. An dieser Stelle aber ist die Grenzen zwischen Grammatik und Stil kaum auszumachen.
Mit freundlichen Grüßen aus Berlin
Holger Thießen
-
Dativobjekt und sich
Da eine Frage zur Satzanalyse keine Grammatikfrage in unserem Sinne ist (d.h. keine Frage zu einem grammatischen Zweifelsfall, sondern eine Frage zur Satzanalyse), wird hier auf unser übliches Antwortschema mit den Icons verzichtet. Wir möchten Sie dennoch bitten, unseren kurzen Fragebogen zur Bewertung unserer Antwort auszufüllen.
Es ist kein Wunder, dass Sie bezogen auf den Gebrauch von sich die Grenzziehung zwischen Grammatik und Stil ansprechen. Es handelt sich dabei nämlich um ein grammatisches Phänomen, dessen grammatischer Status praktisch in allen Grammatiken diskutiert wird. Der Grund dafür liegt im Phänomen selbst: Es gibt (teilweise sprachhistorisch bedingt) zahlreiche Fälle, die nicht eindeutig kategorisiert werden können. An dieser Stelle können nicht alle Facetten des Phänomens erläutert werden, daher werden wir uns auf das Wichtigste beschränken.
In modernen Grammatiken werden bezüglich der Verwendung des Reflexivpronomens sich grundsätzlich drei Verbtypen unterschieden: so genannte "echte" reflexive Verben, reflexiv gebrauchte Verben und reflexive Verbvarianten.
Für echte reflexive Verben gilt, dass ihr sich keine eigene Bedeutung trägt, sondern semantisch fest zum Verb gehört. Es ist nicht erfragbar, nicht betonbar und es kann nicht an den Satzanfang gestellt werden. (1) und (2) sollen diesen Fall veranschaulichen:
(1) Peter sollte sich deswegen schämen.
(2) Peter sollte sich das mal überlegen.
In (1) liegt ein akkusativisches sich vor, in (2) ein dativisches. Die Kasusformen treten zwar nicht zum Vorschein, Sie können aber durch einen einfachen Test zeigen, welcher Kasus anzunehmen ist, indem Sie die Personenkategorien ändern und das drittpersonige Substantiv Peter etwa durch du (2. Person) ersetzen:
(1´) Du solltest dich deswegen schämen.
(2´) Du solltest dir das mal überlegen.
Herkömmliche Akkusativ- und Dativobjekte sind semantisch nicht leer, sondern bringen z.B. die betroffene Person (Der Arzt untersucht den Patienten) oder etwa den Empfänger (Der Arzt gibt dem Patienten Bonbons) zum Ausdruck, während dies für das sich in (1) und (2) bzw. für dich und dir in (1´) und (2´) nicht gilt, die daher aus semantischen Gründen keine Satzglieder, d.h. auch keine Akkusativ- und Dativobjekte darstellen.
Das sich bei reflexiv gebrauchten Verben kann hingegen eindeutig als Akkusativ- oder Dativobjekt ausgewiesen werden. Beispiele hierfür sind (3) und (4):
(3) Peter sieht sich im Spiegel.
(4) Peter kauft sich ein Buch (analog zu Ihrem Beispiel).
Dieses sich ist sehr wohl mit herkömmlichen (also nicht reflexiven) Akkusativ- und Dativobjekten vergleichbar: Peter kann jemanden oder eben sich selbst im Spiegel sehen bzw. kann Peter sich selbst oder einem Freund ein Buch kaufen. Das sich in (3) und (4) funktioniert also wie andere Akkusativ- oder Dativobjekte. Das (semantische) Spezifikum ist dabei nur, dass das jeweilige Objekt reflexiv belegt wird, was bedeutet, dass die im Subjekt bezeichnete Person (Peter) mit der im Objekt bezeichneten (derselbe Peter) zusammenfällt.
Reflexive Verbvarianten stehen irgendwo zwischen echten reflexiven und reflexiv gebrauchten Verben, indem die Zuordnung ihres sich schwieriger ausfällt als in (1), (2), (3) und (4). Ein Beispiel hierfür ist (5):
(5) Peter zieht sich an.
Es gibt zwar ein anziehen, das nicht reflexiv ist (Peter zieht seinen Sohn an), aber das sich in (5) scheint trotzdem nicht einfach auf der Folie herkömmlicher Akkusativobjekte interpretierbar zu sein, vgl.:
(5´) Wen zieht Peter an? Er zieht sich an. (??)
Ähnlich ist es bei sich irgendwohin legen (setzen/stellen):
(6) Wen hat Peter auf die Bank gelegt? Er hat sich auf die Bank gelegt. (??)
Es ist also wahrscheinlich so, dass Sie zwischen den beiden Polen echte reflexive Verben und reflexiv gebrauchte Verben eine Art "Grauzone" mit sich-Vorkommen vorliegen haben, deren Status als Objekt/Satzglied oder kein Objekt/kein Satzglied anhand der bekannten Frage-, Betonungs- bzw. Umstelltests nicht eindeutig bestimmt werden kann bzw. bei denen die verschiedenen Tests zu verschiedenen Ergebnissen führen und dabei die Grammatikalitätsurteile (Ihres und das Ihrer Kollegen) sehr unterschiedlich ausfallen können. So verwundert es auch nicht, dass Sie selbst bei kaufen (hier den "klaren Fällen" zugeordnet) Bedenken haben. So weist bswp. auch die Dudengrammatik (Auflage 2009, S. 406) darauf hin, dass die Tests (Umstellung, Frageprobe) zu Konstruktionen führen, die "nicht ganz natürlich wirken".
Was sich schleichen angeht, so würden wir Ihr Beispiel aus heutiger Sicht den echten reflexiven Verben zuordnen; hier wäre das sich also semantisch leer und daher auch kein Akkusativobjekt. Diese Analyse hat zur Folge, dass die Bewegung des sich an den Satzanfang nicht möglich ist. Das Verb sich schleichen ist aber sprachhistorisch insofern interessant, als es aus einem transitiven, d.h. ein Akkusativobjekt fordernden, schleichen in der Bedeutung "gleiten lassen, schleppen, ziehen" enstanden ist, das heute im Standard nicht mehr gebräuchlich ist. Mit sich schleichen liegt also ein Beispiel vor, an dem sichtbar ist, dass die oben angesprochene Grauzone auch sprachhistorisch bedingt ist. Zu dem Verb (etwas) schleichen wurde der reflexive Gebrauch (mit reflexivem Akkusativobjekt) gebildet, der sich sozusagen verselbständigt hat und so in die Klasse echter reflexiver Verben übergetreten ist.
Ähnliche Themen
-
Von Unregistriert im Forum Fragen zur Grammatik
Antworten: 1
Letzter Beitrag: 15.04.2012, 22:26
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
Foren-Regeln
Wie gehen Sie mit dieser Antwort um?
Die Universität Gießen betreibt dieses Grammatikportal mit dem Ziel, den Umgang mit Grammatiken zu erforschen. Die Nutzung des Portals und die Antworten unseres Expertenteams sind kostenlos; wir bitten Sie lediglich, uns wissen zu lassen, wie Sie mit dieser Antwort umgehen und wie Sie sie bewerten.
Es wäre schön, wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen und unseren Fragebogen ausfüllen. Damit helfen Sie unserem Forschungsteam, die Qualität unserer Antworten und die Qualität von Grammatiken im Allgemeinen zu verbessern!
Lesezeichen